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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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haben sich ihm nie wirklich erschlossen. Sie tun es auch hier nicht. Sein mehrmals gemurmeltes «Blechtrottel, blöder!» bringt den Computer nicht zur Räson. Erst unter Anleitung des fachkundigen Kellners, dessen Mitgefühl eher dem Blechtrottel als dem Lemming zu gelten scheint, gelingt es ihm, die widerspenstige Maschine zu zähmen. Nacheinander tippt er nun die Namen der Klassenliste in die Tastatur. Ein leises Schnurren der Schaltkreise, begleitet vom gedämpften Klang platzenden Popcorns in einem Eisenkessel, und auf dem Monitor leuchtet das erste Ergebnis auf.
    Es ist die Internetseite des renommierten Hotel Kaiser am Schottenring. Hundert Jahre Kaiser , verrät die goldene Jugendstilschrift auf dem Bildschirm und Ein Jahrhundert gehobene Gastlichkeit im gediegenen Ambiente der Belle Époque . Weiter unten kann man nachlesen, dass sich das Hotel seit seinem Gründungsjahr 1898 im Besitz der Familie Söhnlein befindet, deren bislang jüngster Sohn Albert 1988 die Leitung des Hauses übernommen hat. Albert Söhnlein hat sich also zum Hoteldirektor gemausert.
    Der Lemming vermerkt es mit Bleistift im Jahresbericht und sucht weiter. Doch es gelingt ihm erst nach geraumer Zeit, einen zweiten Treffer zu landen.
    sebastian kropil – chorale florale – une plantasie musicale. Weiße Minuskeln im Zentrum unendlicher Schwärze, die absolute Reduktion der ästhetischen Mittel. Wenn das nicht nach Kunst riecht … Hilflos fuhrwerkt der Lemming mit der so genannten Maus herum, drückt frenetisch auf die Tasten des elfenbeinfarbenen Dings, und plötzlich verschwindet das Wort plantasie , um gleich darauf in giftigem Grün wieder zu erscheinen, sich aufzublähen, zu wachsen, ja förmlich über den Bildschirm zu fluten. Aus den kleinen Boxen zu beiden Seiten des Monitors ertönt jetzt ein scharfes Knirschen, ähnlich dem Geräusch einer zerkratzten Schellack auf dem Plattenteller, und ein Summen, wie man es zuweilen in der Nähe von Hochspannungsleitungen hören kann. Vor den Augen des Lemming entfaltet sich ein weiterer Schriftzug: la plantasie du kropil – kalksburg – randgasse 1 / 2 – freitag, 17 . märz 2000 – 21 uhr.
    Damit stehen zwei Dinge fest: Sebastian Kropil ist Musiker geworden. Und: Es wird ein langer Abend.
    Der Lemming zahlt und verlässt das Café Modern , nicht ohne sich zuvor bei seinem neu gewonnenen Freund bedankt zu haben. «Braver Blechtrottel …», raunt er dem Computer zu. Dann eilt er heim, um nach Castros Befinden zu sehen, um ihm zwei frisch gefüllte Näpfe mit Haferflocken und Wasser neben die Badewanne zu stellen und um sich selbst ein wenig frisch zu machen. Pünktlich um halb sieben betritt er das Restaurant Plavaczek , eines von den guten alten Beisln, die Wien aufzubieten hat, mit der typischen wuchtigen Vorkriegsschank und dem ausgetretenen Boden aus Eichenbohlen.
    Der Wirt ist ganz ohne Zweifel sein eigener bester Kunde. Ungezählte Portionen Rahmbeuschel, Kalbsgulasch, Lungenstrudel, Nierndln mit Hirn, Tafelspitz, Zwiebel- und Vanillerostbraten haben in ihm ihre letzte Ruhestätte gefunden, haben ihm Form verliehen und ihn über die Jahre als Inkarnation prallen Phäakentums zum Fleisch gewordenen Aushängeschild des Lokals werden lassen. Fröhlich huscht er zwischen Schankraum und Küche hin und her, serviert und parliert, kocht und kostet, ist in seinem Element.
    «Servus!», ruft er dem Lemming zu. «Beuscherl! Ganz frisch heut!»
    «Servus, Plava.»
    Der Lemming findet einen freien Platz unweit der Theke, setzt sich und schmökert in der Speisekarte. «Ich wart noch auf wen», klärt er Fräulein Elfi, die Kellnerin, auf, die bald an den Tisch kommt, um seine Bestellung aufzunehmen. Aber Huber lässt sich Zeit. Zwei Seideln hat der Lemming schon geleert, und er fragt sich bereits, ob Huber überhaupt erscheinen wird, als dieser doch noch das Lokal betritt. Argwöhnisch lässt er seinen Blick durch den Raum schweifen, entledigt sich dann seines Trenchcoats und fragt, ohne den Lemming anzusehen: «Ist hier noch frei?»
    Der junge Mann ist offenbar um Contenance bemüht. Könnten sich Kinder ihre genetischen Eltern aussuchen, denkt der Lemming, Huber hätte Clint Eastwood als Vater gewählt. Und Humphrey Bogart als Mutter … Aber unter Hubers cooler Maske brodelt es. Verräterisch zuckt seine Unterlippe.
    «Sodala. Gesellschaft komplett? Was darf’s sein?» Die Kellnerin stützt ihre Fingerknöchel auf die Tischplatte und zieht fragend die Augenbrauen hoch.
    «Danke, nur

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