Der Fall des Lemming
Barett in der Hand, streckte es den anderen drohend entgegen, und in dem Barett lag etwas, saß etwas, winzig und leuchtend grün.
«Das Bild», keuchte Herbert, «das Bild! Le Photo! My picture! Vous m’avez volé my daughter! Vous m’avez volé my daughter!»
In seinem rasenden Zorn vermengte er deutsche, französische, englische Worte, sodass es beinahe klang wie die seltsame Mischsprache der Kreolen.
«Fuck you! Merde! Ihr dreckigen Wichser! Qui done it! Qui stole le photo!»
Aber schon bald senkte sich seine Stimme zu einem Flüstern.
«Rendez! Rendez le to me, immédiatement, sinon … I lick it! Ich lecke ihn ab!», stieß er zwischen den Zähnen hervor. Und da erkannte Janni, was es war, dieses kleine, glänzende Juwel in Herberts Soldatenmütze. Phyllobatus Terribilis, der schreckliche Frosch, kaum vier Zentimeter lang und doch das giftigste aller Lebewesen am Amazonas. Die Pfeile der Blasrohrindianer sind mit seinem Nervengift getränkt, und die Menge, die ein einziges dieser Tiere auf seiner Haut trägt, reicht aus, um zehn Menschen zu töten.
«Ich lecke ihn ab!»
Die Szene war mehr als grotesk. Da standen acht Dschungelkämpfer erschöpft und ausgezehrt in der Urwaldhölle, und einer von ihnen drohte den anderen, an einem Frosch zu lecken.
«Il est fou», hörte Janni einen der Männer murmeln. Er machte zwei Schritte auf Herbert zu.
«Bleib stehen, Mensch! Bleib bloß stehen! Hast du es etwa? Hast du mein Bild genommen, du Drecksau?»
«Wer sonst?», sagte Janni.
Das Barett fiel zu Boden, der Giftfrosch hüpfte durchs Blattwerk davon, während Herbert sich mit wildem Röcheln auf Janni stürzte. Die sechs anderen traten dazwischen, packten den Tobenden, um ihn zurückzuhalten. Worte und Fäuste stiegen auf, prallten gegeneinander, und da, inmitten des Handgemenges, konnte Janni die Finger sehen, die flinken, geübten Finger des Taschendiebs, wie sie es seitlich in Herberts Hose gleiten ließen. Das kleine Silberetui. Herberts Schatz. Unwichtig, welchem der Männer die Finger gehörten. Vollkommen unwichtig. Es ging darum, dass sie alle dieses Inferno überlebten. Und das konnten sie nur gemeinsam tun.
Herbert schnaubte noch immer vor Wut, aber er gab Jannis Drängen schließlich nach und durchsuchte noch einmal die Taschen seiner Uniform. Minuten später kauerte er auf seiner Pritsche, das zerknitterte Foto fest in den Händen, und die Tränen liefen ihm über die Wangen. Janni betrachtete ihn eine Weile, setzte sich dann neben ihn und holte wortlos seinen eigenen kleinen Schatz hervor. Einen alten, abgewetzten Lederbeutel. Eine Hand voll Kaffeebohnen, die darin steckten.
«Nimm eine», murmelte er, «wir sind alle sehr müde …» So saßen sie Seite an Seite und kauten. Irgendwann blickte Herbert auf und fragte leise: «Warum hast du das getan? Warum hast du mir das Leben gerettet?»
Janni runzelte die Stirn.
«Der Frosch», brummte er. «Der Frosch hat mir Leid getan.»
10
Den Nachmittag hat der Lemming mit der Suche nach den ehemaligen Schülern des Iden-Clubs verbracht. Er ist zunächst auf das Postamt in der nahe gelegenen Porzellangasse gegangen, um dort Telefonbücher zu durchforsten. Nur drei der Namen hat er darin gefunden, aber einen dafür gleich mehrmals. Alleine in Wien wohnen fünf Männer, die Franz Sedlak heißen. Noch ein Glück, so hat der Lemming gedacht, dass ihm ein Meier oder ein Huber erspart geblieben ist. Außer den Sedlaks waren noch Peter Pribil und Walter Steinhauser angeführt, beide im Wiener Telefonverzeichnis. Der Lemming hat sich die Nummern und Adressen notiert und ist dann mit Tramway und U-Bahn zum Zentralmeldeamt im fünfzehnten Bezirk gepilgert. Für jeweils dreißig Schilling Bearbeitungsgebühr kann man hier Personen ausfindig machen, sofern sie ihren ordentlichen Wohnsitz in Wien haben und sofern man sich eine Woche gedulden will, um auf positive Erledigung seines Antrags zu warten.
«So lang dauert’s halt, bis das Kaffeetscherl ausgetrunken, das Plauscherl mit der Freundin beendet und meine Fingernägeln getrocknet san! Glauben S’, i sitz zum Vagnügn do?», hat die füllige Dame hinter dem Tresen die Ungeduld des Lemming quittiert. Also ist er schließlich unverrichteter Dinge im Café Modern vis-à-vis vom Franz-Josefs-Bahnhof gelandet, das neben zwei ausgeleierten Flipperautomaten auch über einen Internetanschluss verfügt.
Tief in seinem Herzen hat der Lemming immer an Wunder geglaubt, aber die neuesten Wunder der Technik
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