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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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viel …»
    «Danke. Ich finde schon allein hinaus.»
    Die Nase des Lemming hat zu bluten aufgehört. Eine Stunde ist vergangen. Oder sind es zwei? Er hat längst jedes Zeitgefühl verloren. Was tut Söhnlein da drüben? Gießt er seine Bonsaibäumchen? Hält er ein Schläfchen? Muss er denn nie aufs Klo? Der Lemming ist nahe daran, sein Versteck zu verlassen und mit einem «O Verzeihung» durch Söhnleins Büro auf den Gang zu fliehen, als er plötzlich ein Hüsteln vernimmt, das von hinten, von der versperrten Seite der Doppeltür, kommt. Und Schritte, die sich nähern. Mit einem Mal ist alle Panik wie verflogen. Was bleibt, ist pures Erstaunen: Es kann also wirklich noch schlimmer kommen an diesem dreimal beschissenen Samstag. Es ist ein Fluch. Ja, es muss ein verdammter Fluch sein. Schon dreht sich hinter seinem Rücken der Schlüssel im Schloss.
    Mag ja sein, dass er darüber lachen wird, eines fernen Tages, nächste Woche oder nächstes Jahr vielleicht. Er wird sich an diesen Moment erinnern, und daran, was er instinktiv getan, wohin er sich geflüchtet hat. An jenen letzten Ort, der scheinbar Schutz verspricht: zurück, weit zurück in die Kindheit. Es ist ganz einfach. Der Lemming presst sich im toten Winkel an den Türstock und schließt die Augen. Wenn man die Augen schließt, wird man unsichtbar. Ja, einfach unsichtbar. Das weiß jedes Kind.
    So klemmt er also zwischen den beiden festgestellten Türflügeln, während der alte Herr Söhnlein vor ihm in den Rahmen tritt. Söhnlein senior klopft nicht an. Er stößt die Tür zu Söhnlein juniors Büro auf und bleibt auf der Schwelle stehen, keinen halben Meter vom stocksteifen Lemming entfernt.
    «Fünf Minuten», sagt der Alte, und es klingt kühl, beinahe frostig. «Fünf Minuten.»
    «Aber Vater, ich bin noch nicht dazu …», ertönt leise die Stimme seines Sohnes.
    «Bilanz in fünf Minuten, auf meinem Schreibtisch. Willst du dieses Hotel nun leiten oder nicht?»
    «Das … tu ich doch … seit zwölf Jahren … Ich denke …»
    «Du sollst nicht denken, du sollst abrechnen. Punkt drei Uhr, wie üblich. Du hast noch vier Minuten.»
    «Aber Vater, ich …»
    «Immer schon. Ich hab’s immer schon gewusst: Nicht einmal deinem armen Bruder kannst du das Wasser reichen. Wenn du nur ein einziges Mal selbständig denken würdest!» Der alte Söhnlein macht auf dem Absatz kehrt und wirft die Tür hinter sich zu. Dem Lemming fällt ein Stein, ein Fels, ein ganzer Berg vom Herzen. Vorsichtig öffnet er die Augen, eines nach dem anderen. Was für ein Arschloch, denkt er, was für ein altes Patriarchenschwein. Und trotzdem mein Retter, möglicherweise …
    Und wirklich: Nach kürzester Zeit ertönt das Rascheln von hastig zusammengerafftem Papier, das scharrende Geräusch eines Stuhls auf dem Parkettboden und schließlich die eiligen Schritte des jungen Söhnlein. Wieder versteift sich der Lemming und kneift in Erwartung des Schlimmsten die Augen zusammen, aber schon vernimmt er ein zögerndes Klopfen, gefolgt von einem mürrisch gebellten «Herein!», und endlich, endlich verschwindet der Sohn im Büro seines Vaters, in der Höhle des bissigen Löwen. Endlich gibt Söhnlein den Weg zum Rückzug frei.
    Der Lemming schleicht auf den Gang hinaus, sprintet bis zum Lift, stolpert dann doch lieber die Treppen hinunter, versucht, seinen Lauf zu zügeln, als er das Foyer passiert, um nicht noch Aufsehen zu erregen. Erfolglos. Kaum hat sie ihn erblickt, stößt die junge Frau am Empfang einen spitzen Schrei aus und schlägt die Hände vor den Mund.
    «Mein Gott! Wer hat Sie so …?»
    Natürlich!, fährt es dem Lemming durch den Kopf. Meine Nase, das Blut … Er antwortet nicht. Er hetzt an der Rezeptionistin vorbei durch die Drehtür auf die Straße, zurück, nur zurück ins gute alte Jahr 2000.

13 
    «Nicht da … nein … Stückchen links … mach weiter …»
    Mit einem Ruck setzt sich der Lemming auf und blinzelt zum Fußende des Bettes hinunter, wo sich ein feuchtes, warmes Maul an seinen Zehen festgesaugt hat. «Geh, Castro …»
    Er lässt sich aufs Kissen zurückfallen, reibt seine verklebten Augen, horcht tief in den brummenden Schädel hinein. Da war doch … da war doch noch …
    «Scheiße! Zehn vor acht! Kaffee Kellermann !»
    Das ist noch zu schaffen, Lemming, das geht sich noch aus, Kleine Pfarrgasse, jenseits des Donaukanals, am Rande des Augartens.
    Schon ist er auf den Beinen, fährt torkelnd in die Hose, ins Hemd, in die Jacke. Wirft

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