Der Fall des Lemming
noch rasch einen Blick in den Spiegel, erschrickt. Seine Nase ist angeschwollen, fast auf die doppelte Größe, und bläulich verfärbt. Ein dunkler Ring zieht sich schattenhaft um das rechte Auge, ein klassisches Veilchen.
Hoffentlich, denkt der Lemming, bekomm ich heute Abend kein zweites … Sedlak und Steinhauser werden nicht gerade glücklich darüber sein, dass ich sie nicht bezahlen kann …
Draußen hat es zu regnen aufgehört. Ein feuchter Nebelschleier senkt sich auf den Kanal, an dessen verlassenen Ufern die Laternen glitzern. Der Lemming läuft über die Rembrandtbrücke auf die Insel, die vor langer Zeit aus dem Gerinne ungezählter Arme der noch unregulierten Donau emporgestiegen ist. Als ennhalb Tunaw – drüber der Donau war sie einst bezeichnet worden, nachdem sich die ersten wagemutigen Fischer auf ihr angesiedelt hatten, dann als unterer Werd , auf dem im siebzehnten Jahrhundert das erste jüdische Ghetto angelegt wurde. Später erhielt sie den Namen Leopoldstadt, und schließlich wurde sie in die beiden heutigen Bezirke geteilt, in den zwanzigsten, die Brigittenau, und den zweiten, eben die Leopoldstadt. Dem kleineren, zentralen Teil des zweiten Bezirks schließt sich der Prater an, dessen grüne Auen sich weit nach Südosten ziehen, bis zum so genannten Spitz, an dem sich der Donaukanal wieder mit seinem Mutterstrom vereint. Die Juden und die Mazzesinsel , wie die Leopoldstadt im Volksmund genannt wird, das ist ein eigenes Kapitel der Wiener Geschichte. Zwangsweise angesiedelt, dann wieder vertrieben, freiwillig zugezogen und abermals weggejagt, immer so fort, bis in die Zeit des NS-Regimes, als Juden aus ganz Wien hier zusammengepfercht wurden – ihre letzte Station vor dem Konzentrationslager. Fünfzigtausend lebten 1938 hier, fünfhundert waren es 1945.
Zwei junge Männer mit langen dunklen Mänteln und breiten Hüten kommen dem Lemming entgegen. Sie senken stumm den Blick, als er auf sie zu-, an ihnen vorüberhastet. Es ist Samstagabend.
Um fünf nach acht betritt er das Kaffeehaus und geht durch den menschenleeren Gastraum nach hinten, ins Billardzimmer. Es ist schon lange her, dass er selbst zum Queue gegriffen hat, aber die Atmosphäre des Raumes ergreift ihn so unmittelbar, als sei es gestern gewesen. Die blaugrünen Tische, das leise Klicken der Kugeln, die nach unten gerichteten Lichtkegel, beinahe grell im Vergleich zur darüber herrschenden Finsternis. Von den Spielern sind nur die Beine und Hände zu erkennen, ihre langsamen, katzenhaften Bewegungen, ihre tiefe Konzentration.
Carambol – das ist die gediegene, elegante Variante des Billard, die man nicht in lauten Spielhallen findet und nicht in schnapsdunstgeschwängerten Vorstadtespressos. Mit drei Kugeln wird es gespielt, auf einem glatten filzbespannten Tisch ohne Seitentaschen, und es kennt nur das eine hohe Ziel, den einen tiefen Sinn: mit dem eigenen Spielball die beiden anderen zu berühren. Ein kleines Universum tut sich hier auf, ein Sandkasten der Newton’schen Gesetze. Dennoch war es ein anderer Physiker, nämlich Albert Einstein, der gesagt hat: «Billard ist die hohe Kunst des Vorausdenkens. Es ist nicht nur ein Spiel, sondern in erster Linie eine anspruchsvolle Sportart, die neben physischer Kondition das logische Denken eines Schachspielers und die ruhige Hand eines Konzertpianisten erfordert.»
Vor nicht allzu langer Zeit waren zahlreiche Wiener Kaffeehäuser mit Caramboltischen ausgestattet, heute sind es nur noch wenige, und sie weisen auf die edle Gesinnung ihrer Besitzer hin: Sie kosten Geld. Sie brauchen Platz. Sie sind ein unrentabler Luxus geworden, wie die meisten Kaffeehäuser selbst.
Am hintersten der vier Tische spielen zwei Männer, die Sedlak und Steinhauser sein könnten, ein kleinerer, dessen Bauch den Gürtel seiner Jeans verdeckt, und ein großer, behäbiger in Cordhosen und kariertem Pullover. Der Lemming nähert sich ihnen, nimmt aber dann auf einem der seitlich stehenden Stühle Platz.
«Achtel Rot», flüstert er dem Kellner zu, der wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht ist.
Die beiden Männer haben ihn nicht bemerkt, sind in ihr Spiel vertieft.
«Ziagn, Sedi, den musst ziagn, mit aner linken Fettn», meint jetzt der Dicke.
Unwillkürlich muss der Lemming lächeln. Die Fettn , natürlich, das ist die wienerische Bezeichnung für Effet , also das seitliche Anschneiden der Kugel, um ihr einen entsprechenden Drall zu verleihen. In der kommenden Viertelstunde wird der Lemming noch
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