Der Fall des Lemming
Familienbetrieb der Söhnleins, das Hotel Kaiser. Kaum zehn Minuten braucht der Lemming, bis er vor dem eindrucksvollen Gründerzeitportal angelangt ist. Er faltet seinen alten Regenschirm zusammen und setzt die wuchtige Drehtür in Bewegung. Es ist eine magische Drehtür. Es ist eine Zeitmaschine. Ein kleiner Schritt nur für einen Menschen …, denkt der Lemming sofort, als er das Foyer betritt, aber ein großer Schritt in die Vergangenheit. Natürlich. Es muss eine Drehtür sein, eine Schleuse, die die Luft und die Zeiten trennt, die verhindert, dass sich das Gestern mit dem Heute, das Draußen mit dem Drinnen vermischt. Draußen die Gischt der vorüberbrausenden Autos, der Lärm, der Gestank. Drinnen die schweren Teppiche, die Fächerpalmen in sanft geschwungenen Mahagoninischen, der süße Duft nach Pfeifen und Zigarren. Leise Klaviermusik schwebt durch den Raum, ein frühes Werk von Claude Debussy.
An der Rezeption lächelt dem Lemming huldvoll eine junge Frau entgegen.
«Kann ich etwas für Sie tun?»
«Ich hätte gerne mit dem Herrn Direktor gesprochen. Können Sie mir …»
«Senior oder Junior?»
«Herr Albert Söhnlein.»
«So heißen sie beide.»
«Dann Junior.»
«Da haben Sie Glück. Der junge Herr Albert ist, glaube ich, zugegen. Soll ich Sie anmelden?»
«Das wird nicht nötig sein. Wenn Sie mir nur …»
«Das wäre dann im vierten Stock, ganz rechts. Sie können den Fahrstuhl nehmen.»
Der Lemming bedankt sich und steuert quer durch die Eingangshalle auf den Lift zu. Und welch ein Lift. Aufragend, messingglänzend, selbstbewusst wölbt sich das wabenförmige Gehäuse aus der Wand, in dem ein kristallverspiegelter, von dicht verschlungenem Schnitzwerk umrankter Fahrkorb auf und ab gleitet. Eine Ode an Zeiten, in denen der Aufzug noch Ascenseur hieß, in denen die neuesten Wunder der Technik zugleich auch üppiges Kunstwerk waren, das sich vor nichts und niemandem verstecken musste. Der Lemming fährt nicht einfach in den vierten Stock, er wird Meter um Meter emporgehoben wie eine Eminenz, würdevoll und ohne die demütigende Hektik all derer, für die Zeit nur Geld bedeutet.
So ein Hotel, so einen Fahrstuhl will ich auch haben, denkt er und fühlt sich kindisch und gut dabei.
Drei Minuten später schwebt er lautlos in Richtung der Büros – ein dicker rubinroter Läufer verschluckt das Geräusch seiner Schritte. Einige wenige Wandleuchter tauchen den Flur in schummriges Licht, und so kann der Lemming erst spät eine hohe Tür an dessen Ende erkennen, auf der ein Messingschildchen angebracht ist:
A. Söhnlein – Direction.
Der Lemming klopft, doch er erhält keine Antwort. Gerade will er es noch einmal probieren, da fällt sein Blick auf eine kleine, wenige Meter entfernte Tapetentür, die mit einem weiteren Schildchen versehen ist. A. Söhnlein jun. – Direktor , entziffert der Lemming. Er geht hinüber, hebt die Hand, zuckt wie vom Blitz getroffen zusammen und stürzt Hals über Kopf in Söhnleins Büro. Drei Männer kommen hinter ihm den Gang entlang. Ein kleiner, gedrungener im Herrenjackett, ein hagerer, schlaksiger im Trenchcoat, ein großer, bulliger im braunen Ledermantel.
Unter den Schreibtisch? In den Wandschrank? Hinter die honigfarbene Ledercouch? Wohin, Lemming? Wohin nur? Er flitzt durch den Raum, sucht fieberhaft nach einem geeigneten Versteck, rüttelt an der Schnalle einer Flügeltür, die offenbar als Verbindung zum angrenzenden Büro fungiert. Er reißt sie auf, im letzten Moment, schlägt mit der Stirne, mit der Nase auf eine weitere, wirft sich vergeblich dagegen, zieht dann hastig den Flügel hinter sich zu, während der Schmerz durch seinen Kopf zuckt. Er kann nicht mehr vor, nicht zurück, steht eingeklemmt zwischen hohen, hölzernen Füllungen in der Dunkelheit. Mit pochendem Herzen wird es ihm klar: Er ist gefangen, festgesetzt in einer Doppeltür zwischen Söhnlein junior und Söhnlein senior. Warm und salzig tropft das Blut aus seiner Nase auf die Oberlippe, während nebenan die ersten Geräusche laut werden.
«Sehr noblig, Ihnere Hütte, Herr Direktor Kaiser!», lässt sich Krotznigs Organ vernehmen.
«Söhnlein, Herr Kommissar. Nehmen Sie Platz, bitte.» Eine heisere, etwas zu hohe Männerstimme, die Stimme des jungen Herrn Albert. Der Lemming hört das Knarren von Leder, das Reiben von Stoff. Und Stühlerücken. «Ja also, meine Herren, ich weiß nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann. Wie gesagt, das liegt alles schon so lange
Weitere Kostenlose Bücher