Der Fall des Lemming
Schafe sein.
«Muss ein schwieriger Mensch gewesen sein, der Grinzinger …», meint er mitfühlend.
Sedlak und Steinhauser starren in ihre frisch gefüllten Weingläser. Sie scheinen auf einmal um Jahre gealtert zu sein. Unvermittelt hebt Sedlak sein Viertel, führt es zum Mund und trinkt. Er leert das Glas in einem Zug, stürzt den Weißen wie durch ein heißes Ofenrohr die Kehle hinunter. Dann sagt er leise: «Er hat uns zerstört. Er hat uns fast alle zerstört.»
«Wieso fast ?», fährt Steinhauser auf. «Was heißt fast ?»
«Na, entschuldige, der Ali hat seine Ruh g’habt. Is seine Zeit abg’sessen, hat ein bissel studiert und is z’ruck nach Indien. Für den war doch des so was wie ethnologische Feldforschung. Der hat sicher glaubt, des g’hört si so bei uns, des is die typische mitteleuropäische Unterrichtsmethode … Verzeihung, wir haben ja gesagt, hochdeutsch … Na, und das Streber-Söhnlein hat wenigstens gute Noten gehabt, und der Würstel-Pribil war schlichtweg zu blöd, um den Schmerz zu spüren. Aber sonst …»
Walter Steinhauser nickt. Er sieht den Lemming an und beginnt an seinen Fingern abzuzählen: «Neumann: Selbstmord. Serner: Selbstmord. Oskar Weiß: Selbstmord, irgendwann in den Neunzigern … seine Frau hat’s nicht mehr mit ihm ausgehalten. Dieter Gonda: Tod durch Darkroom …»
«Gruppensex», ergänzt Sedlak, «Schwuchtelhütte. Der Gonda war a Bochener, also homo. Ist an Aids gestorben …»
«Übrigens: Der Würstel-Pribil soll inzwischen auch von der anderen Fraktion sein», meint Steinhauser, «aber wurscht. Bruno Ressel: Rollstuhl. Mit hundertsiebzig auf der Kokainstraße ins Schleudern gekommen, reife Leistung … jetzt kann er nur noch im Schritttempo fahren. Dann der Lagler … weißt du was vom Lagler?»
«Sitzt. In Stein. Seit zirka zwei Jahren schon. Raub und Betrug. Der Trottel geht doch wirklich auf die Volksbank in der Gersthofer Straße, schiebt dem Kassier einen Zettel hin, auf dem Geld oder Bombe! steht, räumt ordentlich ab, flüchtet, und weißt, was dann passiert? Der Zettel war sei’ eigene Visitkarten!»
Sedlak und Steinhauser brechen in Gelächter aus. Irgendwo im Hinterkopf des Lemming klingelt es. Plötzlich fällt ihm ein, was ihm heute Morgen nicht einfallen wollte. Das fehlende Etwas auf seinem Küchentisch. Die Visitenkarten aus Grinzingers Brieftasche. Er hat sie noch nicht einmal durchgesehen.
«Herr Ober! Eine Runde!»
Die beiden gegenüber beruhigen sich, und Steinhauser fährt fort: «Wer bleibt noch? Der K-k-k-kropil, das verkannte Genie, Monsieur zweieinhalb Volt. Wissen S’, was er werden wollte? Sänger. Und wissen S’, was er beim Grinzinger gelernt hat? Stottern. O S-s-sole m-mio. Er war ziemlich gut mit dem Serner befreundet, soweit ich mich erinnern kann. Fehlt noch wer?»
«Max Breitner, auch Rasta-Max genannt. Unser Kifferkönig. Immer zugedröhnt bis über die Schädeldecke. Stiller Typ. Ist oft drüben gesessen, beim alten Neumann im Kaffeehaus. Den hat die G’schicht damals besonders getroffen, weil der David und er, ich weiß net, irgendwas hat die zwei verbunden. Der Breitner sitzt wahrscheinlich längst irgendwo in Haschistan und treibt es mit Marie-Juana …»
«Herr Ober! Nachschub!»
Wie schön es ist, wenn Gedanken und Zungen sich lösen. Nach und nach weicht das Kalkül dem magischen Fluss des Gesprächs, der rauschhaften Selbstvergessenheit, den offenen Ohren und gütigen Augen, den sprudelnden Worten. Es naht die Stunde der geistigen Vermählung, die Hochzeit zwischen Verständnis und Mitteilungsbedürfnis, es naht die erschütternde, promillegetränkte, jauchzend-melancholische, weltumarmende Seelenverschmelzung.
«Leopold», sagt der Lemming und hebt das Glas.
«Servus, Leopold. Walter.»
«Prost. Franz.»
«Und was ist aus euch beiden geworden?»
Sedlak grinst bis über beide Ohren und streckt den Zeigefinger in die Höhe.
«Privatier», meint er selbstgefällig. Und Steinhauser erklärt: «Dem Herrn Kommerzienrat Sedlak hat es konveniert, sein Erbe in Wettscheinen anzulegen, drüben, beim Trabrennen in der Freudenau. Zwei Mille gewonnen … und vierzig verloren. Jetzt ruht das Geschäft, und er sucht Investoren. Reimt sich übrigens.»
Sedlak schenkt dem Lemming einen treuen Dackelblick und zuckt entschuldigend die Achseln.
«Und du?», fragt der Lemming Steinhauser.
«Automaten», antwortet nun Sedlak stellvertretend. «Er gehört zu den Hirnöderln, die Tag für Tag im Admiral
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