Der Fall des Lemming
hocken und auf vier Zucchini hoffen oder fünf Gurken oder sonst was …»
«Kirschen, du Wappler, es sind Kirschen.»
«Wurscht, was es is. Mit deinen Verlusten könntst schon an eigenen Gemüsegroßhandel aufziehen.»
Der Lemming nickt und trinkt.
«Beatus ille, qui procul negotiis», sagt er dann. «Glücklich, wer fern von Geschäften ist … Im Übrigen: Ich bin auch kein Journalist …»
Erstaunen. Fragende Blicke.
«Herr Ober! Die Nächste auf mich!»
Und dann erzählt der Lemming seine Geschichte, und als er fertig ist, können Sedlak und Steinhauser nicht mehr an sich halten. Klammern sich, von Lachkrämpfen geschüttelt, aneinander wie Ertrinkende, denen das Wasser, der Wein, das Bier aus Mündern und Nasen und Augen spritzt. Ein Glas fällt vom Tisch, dann kippt Steinhauser vom Sessel, kniet auf dem Boden und prustet: «Der Fli … der Fli … der Flitzer vom Alsergrund!»
«Ich bitt Sie, meine Herren!» Der Kellner stellt das Tablett ab und schüttelt vorwurfsvoll den Kopf. «Es sind auch noch andere Gäste …»
«Scho recht.» Mit einem Mal ist Sedlak ganz ruhig geworden. «Richten S’ uns eine Flasche … Zwetschgernen … nein, besser zwei, und rufen S’ uns ein Taxi. Wir machen eine Exkursion.»
«Exkursion?»
«Exkursion. Eine kleine Führung für unseren Freund. Zurück in die Zukunft, oder besser in unsere Ex-Zukunft …»
«Das kannst du nicht … das kann nicht dein Ernst sein …» Steinhausers Augen schielen erschrocken über die Tischkante.
«Voller Ernst. Irgendwann muss es passieren.»
Die Wolken sind gegen Osten weitergezogen. Fahles Mondlicht liegt über Bäumen und Sträuchern, glitzert auf dem taubedeckten Rasen des Fußballplatzes. Drei Männer sitzen auf einer halbhohen Mauer und starren auf die düstere Silhouette des Schebesta-Gymnasiums.
«Scheiße, Sedi. Scheiße …», murmelt Steinhauser.
«Ja, Scheiße.»
Der Lemming schweigt. Er kann die Spannung der beiden an seiner Seite spüren, die hochgezogenen Schultern, die mahlenden Kiefer, die verkniffenen, ängstlichen, bissigen Blicke. Sedlak und Steinhauser sind abgefahren, an einen Ort, den er nicht kennt, und ihre Gedanken wirbeln im Sog der Vergangenheit, als fände sie hier statt und jetzt.
«Ave Grinzinger», flüstert Sedlak, «morituri te salutant.»
«Ja. Die Todgeweihten grüßen dich. So haben wir ihn willkommen geheißen, am Anfang seiner Stunden», bedeutet Steinhauser dem Lemming. «Und dann …»
«Kein Wort von Grinzinger. Nein. Und kein Blick. Wir sind in den Bänken gestanden und haben gewartet. Und er hat in aller Ruhe die Klasse durchquert, mit seiner dünnschissfarbenen Ledertasche, hat sich ans Pult gesetzt und das Klassenbuch aufgeschlagen.»
«Es war ein Bühnenauftritt, jedes Mal aufs Neue, und bis ins Letzte inszeniert. Die Demonstration seiner Unnahbarkeit, seiner unendlichen Macht. Und wir, das Publikum, waren Spiegel und Beweis dieser Macht. ‹Setzen›, hat er gesagt, irgendwann hat er es gesagt, ganz ruhig und beiläufig, und ohne dass er uns dabei ansah. Es war totenstill. Es war immer totenstill in der Klasse. Grinzinger prüfte das Klassenbuch.»
«Manchmal, selten genug, war einer von uns darin vermerkt. Zu spät gekommen, auf dem Klo geraucht, irgend so etwas. Wir haben die anderen Lehrer oft genug angefleht, uns nicht einzutragen, wir waren zu allem bereit, zu jeder Buße, nur dazu nicht. Es war die schlimmste Strafe überhaupt. Und wenn es doch dazu kam … weißt du, Wallisch, was dann geschehen ist? Die anderen, die Klassenkollegen, haben gefeixt, ja, sie haben sich darüber gefreut. Egal, wen’s getroffen hat: Es war wie ein Menschenopfer, es hat den göttlichen Zorn vom Kollektiv auf einen Einzelnen gelenkt.»
«Aber was … hat das bedeutet?», fragt der Lemming zögernd.
«Bedrohung. Angst. Nackte Angst. Er hob plötzlich den Blick, sah dich abschätzig an, kalt wie ein Fisch, und zog den Mundwinkel hoch. Bevor er sich von dir abwandte, sagte er etwas wie ‹Bei mir wird so etwas wie du nicht alt …› oder ‹Ich töte lächelnd …›. Und dann ließ er die anderen Schüler leiden, hat sie geprüft, hart und stakkatoartig, die ganze Stunde hindurch, und hat sich bei jeder falschen Antwort mit hochgezogener Augenbraue Notizen gemacht. Das war hässlich, aber nicht so hässlich wie für den einen, das Opfer, den Schuldigen. Er wurde von Grinzinger ignoriert, verstehst du, er war bereits tot, und seine Kameraden haben ihm in der folgenden Pause
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