Der Fall des Lemming
der Bub ist weggegangen. Wie sein Vater, für immer. Ich habe erst paar Tage später erfahren …»
Durch die Alleen streicht nun ein kühler, beständiger Wind. Der Lemming schiebt Ezer Kelemen langsam dem Ausgang des Parks entgegen, und es fällt kein weiteres Wort mehr zwischen ihnen. Erst als sie das Haus des Doktors erreicht, den halbdunklen Flur durchquert haben und mit dem Aufzug in den ersten Stock gefahren sind, wagt der Lemming eine letzte Frage: «Wissen Sie eigentlich, was David Neumann damals gesucht hat?»
«Ja. Ich weiß, was. Aber war unwichtig, der Bub hat nur aus Schock gesucht … Müssen Sie wissen, Hans war sehr kurzsichtig, hat immer eine Brille getragen. Aber war sie plötzlich fort an diesem Abend. Einfach weg, wie von der Erde verschluckt …»
Einfach weg, wie von der Erde verschluckt …
Jetzt aber liegt sie in seiner Wohnung im neunten Bezirk, auf dem karierten Tischtuch in der Küche. Der Lemming ist absolut sicher: Es muss Hans Neumanns verlorene Brille sein. Das blassblaue Päckchen, das Grinzinger im Wald vergraben hat. So offensichtlich vergraben hat, dass sein Bewacher es finden musste, falls ihm, dem Lehrer, etwas zustoßen sollte. Und darin Hans Neumanns Augengläser … Wie waren sie in Grinzingers Hände gelangt, und vor allem: Was wollte er damit beweisen, und wem? Hat er den herzkranken Alten damals mit voller Absicht in den Infarkt getrieben, um dem Sterbenden noch rasch die Brille vom Kopf zu reißen? Als Trophäe? Als Bestätigung seiner Macht über Sein oder Nichtsein, auch außerhalb der Klassenwände und Schulmauern? «Ich töte lächelnd», soll er immer gesagt haben, zugegeben, aber war er nicht eher ein Seelenmörder, ein feiger Tafelklassentyrann, viel zu kleinmütig, um jemanden wirklich ins Jenseits zu befördern? Und außerdem viel zu klug, um sich ein belastendes Souvenir anzueignen und es dann stolz und prahlerisch durch die Welt zu tragen?
Es führt kein Weg an Max Breitner vorbei. Er muss der stille Knabe in der Ecke des Kaffee Neumann gewesen sein, von dem Ezer Kelemen erzählt hat. Er hat den Abend, vielleicht auch den Nachmittag miterlebt. Hat er ihn auch mitbekommen? Rasta-Max, der Meisterkiffer, Davids Freund und … Klara Breitners Bruder. Er ist der einzige Zeuge, wenigstens der einzige überlebende, falls nicht doch … nein, unmöglich.
Der Lemming wird noch heute eine Hundeleine besorgen. Er wird mit Castro, dem Hund, dem Kalb, mit Castro, dem Leonberger, nach Ottakring fahren. Er wird Klara Breitner wiedersehen. Und er wird standhaft bleiben, weil auch er seinen Stolz hat und seine berufliche Ehre. Er wird Klara Breitner nicht verlassen, bis sie ihm nicht von Max erzählt hat. Jetzt erst, da ein Tag vergangen ist, und da er dank Ezer Kelemen einen Blick in die wahrhaftige Hölle auf Erden getan hat, kommen dem Lemming Zweifel an Klara Breitners Verhalten. Mit einem Mal erscheinen ihm ihre Worte sonderbar, ja völlig ungereimt. «Geld können Sie keines von dem erwarten. Und von mir schon gar nicht!» Was kann sie bloß damit gemeint haben? Er wird es herausfinden, später, nachdem er die Leine gekauft und Peter Pribils Freund einen Kondolenzbesuch in der Wipplingerstraße abgestattet hat. Dieser Mann gestern Abend, der mit dem rötlichen Bart und dem seltsam vertrauten Gesicht … Er hat gesagt, er würde heute wiederkommen …
Olafs Zustand ist erschütternd. Ohne ein Wort der Begrüßung lässt er den Lemming eintreten und schleicht vor ihm her ins Wohnzimmer. Jede mädchenhafte Koketterie ist von ihm abgefallen; matt und kraftlos sind seine Bewegungen, kaum ist er wiederzuerkennen in seinem schwarzen Anzug, seinem einfachen weißen Hemd, seiner schmalen Krawatte. Bald sitzt er gebeugt auf der roten Samtcouch, die Hände flach auf die Knie gelegt, und starrt mit blutunterlaufenen Augen ins Leere. Es scheint, als sei mit dem Tod seines Freundes auch alles Leben aus ihm selbst gewichen.
Zaghaft versucht der Lemming, ein Gespräch anzuknüpfen. Wie Leid es ihm tue, sagt er leise, wie schlimm es sei, einen geliebten Menschen zu verlieren. Er kenne diese unendliche Leere, diese Hilflosigkeit, diesen furchtbaren Schmerz, aber er wisse auch, dass irgendwann, eines Tages, die Hoffnung wiederkehren werde, das erste Lächeln, der erste, kleine Gedanke der Zuversicht; es sei eine Frage der Zeit, natürlich, und kein noch so tröstendes Wort könne Olafs Trauer jetzt lindern, aber er, der Lemming, wolle es, nun ja, wenigstens erwähnt haben,
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