Der Fall des Lemming
mir nicht … Wenn Sie spekulieren auf meine Abneigung gegen Herrenmenschen … Ich verbünde mich nicht so leicht!»
«Verzeihen Sie … Ich will nur verstehen, warum diese Morde …»
«Was soll heißen, wieso Morde?»
«Heute früh ist ein weiterer entdeckt worden.»
«Joj … Wer?»
«Pribil. Ein Schulkollege von David Neumann.»
«Hm. Das ist nicht gut … nicht gut … Nur, was bitte soll ich? Was hat es mit mir zu tun?»
«Ich glaube, es hängt alles mit damals zusammen, mit den Dingen, die sich im Kaffeehaus vom alten Herrn Neumann zugetragen haben. Da gab es diesen schlimmen Tag, Sie wissen schon. Ich selbst weiß zu wenig darüber, und ich hatte gehofft, Sie könnten mir …»
«Schon gut. Bernatzky hat mir auch gesagt. Meinetwegen …»
Ezer Kelemen starrt am Lemming vorbei ins Pflanzendickicht, und er starrt zugleich ins Dickicht der Vergangenheit. Dann beginnt er zu erzählen, lange zu erzählen, und je trüber der Inhalt seiner Worte, desto klarer ist seine Stimme, desto kühler sein Blick.
«Sie wollen verstehen … Also dann fange ich an mit Beginn von allem. Hans Neumann … Ich habe ihn kennen gelernt Sommer vierundvierzig in Budapest. Im so genannten Judenhaus – das waren Häuser, wo man hat uns hineingepfercht. Wie kleine Ghettos, so ähnlich. Hans war dreiundzwanzig, wie ich; er ist da gewesen mit seiner Familie, Eltern und zwei Schwestern. Ich selbst war auch mit meiner Mutter … Ende November man hat uns weggeholt von Budapest …
Sie kennen Gusen? Sie haben schon gehört? Ein kleines Flüsschen, nahe von Linz, im Mühlviertel. Nur paar Kilometer von Mauthausen. Gusen eins und Gusen zwei , das waren vom KZ Mauthausen Nebenlager, aber zweimal größer. Fünfundzwanzigtausend Menschen waren dort damals … Erst sind wir nach Mauthausen, für … Man hat das Selektion genannt. Man hat weggeschickt meine Mutter, und auch die Mutter von Hans und beide Schwestern. Die kleinere, Hannah hat geheißen, sie hat sehr geweint. Hat sich losgerissen und ist gelaufen zu ihrem Papa. Man hat ihr zerschlagen den Kopf, es war eine kleine Bewegung nur … Zwei Tage später sind wir gekommen nach Gusen, Hans, sein Vater und ich.
Gusen zwei , es war eingerichtet zu bauen ein unterirdisches Flugzeugwerk; so wir mussten Stollen graben, sechzehn Stunden am Tag. Die Leute konnten überleben drei Monate vielleicht; Juden weniger, weil wir haben fast gar nichts zu essen gehabt. Wer nicht mehr hat können, man hat ihn an den Händen aufgehängt und totgepeitscht, oder ersäuft in den Latrinen. Oder vergast, wenn ein paar hundert waren, gleich in den Baracken, weil es war keine Gaskammer in Gusen. Von den Öfen wir haben immer gerochen den Rauch, Tag und Nacht. Hans und ich, wir haben aufgegeben im Jänner. Sind wir nur mehr Knochen gewesen und Wunden und Schmutz, und überall war nichts wie große Augen und Angst und Kot und Blut. So wir haben die Toten beneidet. Wir haben gesagt, hinaus, nur durch den Schornstein hinaus, dann endlich soll Ruhe sein. Von Hans der Vater, er hat uns gerettet. Hat hervorgeholt ein kleines Leder-, wie sagt man, so ein Lederbeutel. ‹Mein kleiner Schatz›, er hat genannt. Ich weiß nicht, wie hat er geschafft, in das Lager zu bringen. Es waren darin eine Hand voll Kaffeebohnen. Sonst nichts. Er hat uns gegeben ein oder zwei, hat geredet von Aufwachen, leben bleiben … Wir haben geglaubt. Einmal wieder geglaubt an etwas.
Ende Februar man hat einen Tipp bekommen, wegen des Kaffees. Man hat gesucht, aber nicht gefunden. Hans hat versteckt gehabt für seinen Vater. Trotzdem, man hat … Es hat gegeben eine Art zu morden, die war Spezialität von Gusen. Man hat sie genannt Totbaden . Wenn ist der Befehl gekommen zum Baden, ein paar sind immer losgelaufen, in den elektrischen Zaun hinein. Das war besser, weil schneller. Viele Leute sind geholt worden, draußen man hat sie nackt aufgestellt, bei unter null, und angespritzt mit kaltem Wasser. Es war ein Schreien wie bei Tieren durch das ganze Lager, erst nach einer halben Stunde war wieder still. Damals man hat geholt Vater Neumann.»
Doktor Kelemen macht eine Pause. Er zieht mit ausdruckslosem Gesicht seine Wolldecke höher, räuspert sich und fährt fort.
«Hans und ich, wir sind leben geblieben. Paar Monate wir waren im Lazarett nach dem Krieg, dann sind nach Wien gegangen. Bei amerikanischer Besatzung gearbeitet. Später ich habe Medizin studiert, und Hans hat getroffen seine Frau. In dreiundfünfzig war
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