Der Fall des Lemming
oben, und unten standen die Österreicher, die von diesem Tag an keine Österreicher mehr waren, und jubelten ihm zu. Er hätte den Namen annehmen sollen, den sein Vater früher getragen hatte: Schicklgruber. Das hätte besser zu ihm gepasst: ein geifernder kleiner Gröfaz Schicklgruber … Nur noch wenige Meter trennen den Lemming von dem Unbekannten, der reglos und grüblerisch neben dem Denkmal Erzherzog Karls verharrt.
Da oben, auf jenem Balkon, ist also er gestanden. Und unten eine viertel Million Wiener. An diesem Tag wurden sie von dem da oben zu Bürgern der Ostmark ernannt. An diesem Tag. Es war der fünfzehnte Dritte, ja, es waren die Iden des März 1938 …
Der Lemming hat nun seine Zielposition erreicht. Keine zwei Meter steht er von seinem Opfer entfernt und ringt um Gelassenheit, um innere Ruhe, vor allem aber um eine Idee. Im Grunde sieht er nur eine Möglichkeit: Frontalangriff. Wenn seine Ahnung stimmt, dann müsste es so funktionieren …
Er breitet die Arme aus und tritt mit einem fröhlichen Lachen auf den anderen zu.
«Ja, ist das possibile? Signore Diodato! Sie sind es wirklich! Was tun Sie denn hier in Wien?»
Der Mann zuckt zusammen. Reißt erschrocken den Mund auf und versucht im gleichen Moment, sich auch ein Lächeln abzuringen.
«Nein, so ein Zufall!», markiert er freudiges Erstaunen. Doch dann schaut er dem Lemming direkt ins Gesicht, und der Lemming schaut ihm direkt ins Gesicht, und was der Lemming da sieht, ist von unmittelbarer, schockierender Deutlichkeit. Die grünen Augen, die kurze, griechische Nase, die sanft geschwungenen Lippen … Der Lemming kennt, was er da sieht. Er kennt es von einem schwarz umrandeten Foto …
«David Neumann …», flüstert der Lemming.
Diesmal ist er nicht mehr einzuholen.
Noch ehe der Lemming die Wahrheit begreifen kann, rennt Signore Diodato los und flüchtet mit riesigen Sätzen durch das Burgtor hinaus auf die Ringstraße. Nach wenigen Augenblicken ist David Neumann in Richtung Oper verschwunden.
19
Natürlich ändert sich alles. Natürlich. Man muss es nur zulassen, hinnehmen, muss nur dem Kreislauf entrinnen. Am Anfang steht die Ohnmacht, unerkannt. Sie ist es, die die Neugier zeugt, und mit ihr die Hoffnung. Täuschung und Hochmut folgen auf dem Fuße. Und dann die Erkenntnis, unumstößlich und ernüchternd. Man beißt in den Apfel und weiß im selben Moment, warum er verboten war: Er schmeckt unendlich bitter. Am Schluss ist man so ohnmächtig wie zu Beginn, nur ist man sich dessen bewusst. Das und nichts anderes ist der eigentliche Schaden: Nie wieder wird man es nicht wissen. Es ist nicht mehr zu ändern. Nach allem steigt der Zorn auf, die hilflose Wut, steigt auf, um das Bewusstsein zu betäuben, um der Erkenntnis ihre scharfen Zähne auszuschlagen. Sie kämpfen bis aufs Blut, sie zerfleischen einander und nähren und stärken einander zugleich. Sie sind ein unzertrennliches, hässliches Paar, der Zorn und die unerträgliche Ohnmacht.
Der Lemming hat schon wieder keine Hundeleine gekauft. Er poltert schwer atmend durch die Wohnung und reißt Schränke und Schubladen auf, rauscht an sich selbst vorüber, am Spiegel im Vorraum, bleibt zähneknirschend davor stehen, schnaubend wie der Stier vor dem Torero. Er sieht die Tobsucht, die ihm aus den Augen sprüht, holt aus, schlägt zu, drischt auf sich ein, auf dieses rote Tuch, das Lemming heißt. Sein Bild zersplittert, der Lemming fällt klirrend zu Boden, ein Scherbenhaufen. Leopold Wallisch bleibt über, rasend und ungespiegelt, endlich unreflektiert. Er hat sich nicht einmal die Hand verletzt. Er läuft ins Schlafzimmer, zerrt die Decke vom Bett und das Kissen und das, was Castro darauf hinterlassen hat, packt das Leintuch, windet es zu einem Strang und stampft hinüber ins Bad.
Fünf Minuten später sitzen sie im Taxi, er und der Hund. Castro zittert am ganzen Leib, denn er spürt die Wut des Menschen neben ihm. Dem Taxifahrer zittern die Hände, denn er spürt das Hecheln des zottigen Riesen in seinem Genick. Leopold Wallisch zittern die Nasenflügel, denn er spürt, wie er sich nach und nach in den Lemming zurückverwandelt. Schon greift er zu Castro hinüber und beginnt, das Tier hinter den Ohren zu kraulen. Eine sanfte Geste der Beruhigung, aber auch der Entschuldigung.
David Neumann lebt also.
Vor mehr als zwanzig Jahren hat er der Welt ein Schnippchen geschlagen, hat seinen Selbstmord inszeniert und sich heimlich davongestohlen. Aber wie? Hat man denn nicht
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