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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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und sei es auch nur, um … um einfach da zu sein, mitzufühlen …
    «Verzeihen Sie», murmelt Olaf, ohne aufzublicken, «ich habe Ihnen nichts angeboten … Möchten Sie Kaffee?»
    «Gerne.»
    Hauptsache, denkt der Lemming, er hat jetzt etwas zu tun, eine Arbeit, die seiner Arme und Hände bedarf; das ist wichtig, es treibt das Blut vom Kopf in die Glieder – man muss die Erfrierenden, Deprimierten und Trauernden in Bewegung halten …
    Sie trinken Espresso, in Schwermut versunken, und der Lemming isst einen der trockenen Zimtkekse dazu, die Olaf auf den Tisch gestellt hat. Der knirscht zwischen den Zähnen. Der knirscht zu laut. Er nimmt keinen zweiten. Die vergoldete Standuhr neben dem Fenster tickt und tickt, schlägt schließlich fünf, tickt weiter. Um halb sechs gerät sie aus dem Takt, das Pendel lässt nach, das Ticken verebbt, die Zeit steht endgültig still.
    «Wer ist das gewesen?», bricht Olaf plötzlich das Schweigen.
    «Ich weiß es nicht, Herr Olaf. Noch nicht. Aber ich verspreche Ihnen, ich finde ihn. Vielleicht mit Ihrer Hilfe …»
    «Wie sollte ich …?» Olaf hebt den Kopf.
    «Der Mann von gestern, der bärtige … Ist er heute wiedergekommen?»
    «Nein. Aber … wieso? Denken Sie, dass er …?»
    «Ich weiß es nicht, Herr Olaf. Aber falls er heute Abend nochmals hier auftaucht, dürfte er …»
    In diesem Augenblick klingelt es an der Eingangstür.
    Aber falls er heute Abend nochmals hier auftaucht, dürfte er es nicht gewesen sein, wollte der Lemming sagen.
    «Bleiben Sie ruhig, ich bitte Sie!», zischt er Olaf stattdessen zu. «Öffnen Sie und bewahren Sie Ruhe!»
    Olaf hat keine Fragen mehr. Mit einem Mal schießt ihm das Blut ins fahle Gesicht. Dafür spannt sich jetzt weiß die Haut über seinen kleinen geballten Fäusten. Er springt auf und läuft aus dem Zimmer.
    Der Herr der Zeit ist ein wankelmütiger Geselle. Sind eben noch die Stunden zu Äonen geworden, so verdichten sich nun die Sekunden zu alles entscheidenden Bruchteilen ihrer selbst.
    «Du Schwein! Du dreckiges Mörderschwein!», kreischt Olaf im Flur.
    Der Lemming läuft los. Rennt durch den Vorraum, stößt Olaf zur Seite, sieht einen Schatten um die Ecke huschen, setzt ihm nach, nimmt drei Stufen auf einmal, vier Stock in die Tiefe, hinaus auf die Straße. Ein Blick nach links, nach rechts, da läuft er, der Rotbart, ohne sich umzudrehen, läuft Richtung Börse, der Lemming hinterher. Bis zum Ring und über die Fahrbahn, dann links hinauf zum Schottentor, vorbei an der Universität, vorne der Unbekannte, fünfzig, hundert, bald zweihundert Meter hinter ihm der Lemming. Der Abstand vergrößert sich, die Jagd scheint aussichtslos, stärker ist das Wild, schneller und zäher, doch kurz vor dem Rathauspark verlangsamt sich seine Gangart, es fällt vom Galopp in den Trab und schließlich in einen gemächlich beschleunigten Schritt.
    Der Lemming holt auf, keuchend, versucht, sich dem Mann im Schutz von Passanten und parkenden Autos zu nähern. Und da wendet der andere auch schon seinen Kopf nach hinten, sein Blick streift den halb verborgenen Lemming, bleibt aber nicht an ihm hängen, sondern sucht weiter die Straße ab. Es ist der wütende Olaf, nach dem er Ausschau hält. Seinen wahren Verfolger hat er, scheint’s, gar nicht bemerkt.
    Jetzt schreitet er wieder aus, überquert zwischen Rathaus und Burgtheater abermals die Straße, springt unter den deftigen Flüchen eines Fiakerfahrers knapp vor dessen schnaubendem Pferdegespann auf den Gehsteig, eilt weiter. Der Lemming hinterher. Durch die Rosenbeete des Volksgartens, am Theseustempel vorbei geht es zügig zur Hofburg hinüber. Und hier, in der Mitte des riesigen, öden, geschichts- und schicksalsträchtigen Heldenplatzes, bleibt der Rotbart endlich stehen. Vor ihm erhebt sich, im Halbrund nach innen gewölbt, die Fassade der neuen Burg, und im Zentrum ihres Gemäuers, über dem hohen Eingangstor der Nationalbibliothek, ragt die Brüstung, ragt der Balkon.
    Jener Balkon …, denkt der Lemming, während er sich unter eine Gruppe Touristen mischt, um sich Schritt für Schritt an seine Beute heranzupirschen. Jener Balkon, auf dem vor zweiundsechzig Jahren er gestanden ist, er, der Bastard mit dem dumpfen Blick, der hirn- und seelenkranke Furz des zwanzigsten Jahrhunderts, diese lächerliche Figur mit ihrem lächerlichen Gehabe, ihrer lächerlichen Fettfrisur und ihrem lächerlichen Oberlippenbärtchen, das aussah wie ein zu groß geratener Fliegenschiss. Er stand da

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