Der Fall des Lemming
seinen Pass in der Zille gefunden, in seiner zurückgelassenen Jacke? Egal. Ein falscher Reisepass lag ja immer bereit, wie Ezer Kelemen erzählt hat. Irgendwann ist David Neumann alias Signore Diodato wohl in Triest gelandet, hat geheiratet und ein Lokal eröffnet. So weit, so gut. Aber ist es denn möglich, dass er seinen gewaltigen Hass auf Friedrich Grinzinger all die Jahre hindurch konserviert, ja sogar gesteigert hat, nur um eines Tages zurückzukehren und den Lehrer ins Jenseits zu befördern? Warum so spät? Warum ausgerechnet jetzt? Und wieso musste Peter Pribil daran glauben? Der Würstel-Pribil … natürlich! Er hat doch diesen Ausflug nach Triest gemacht. Dabei könnte er seinem ehemaligen Schulkollegen begegnet und so zum unliebsamen Zeugen für dessen zweite Existenz geworden sein. Neumann ist also nach Wien gefahren, hat Grinzinger den Garaus gemacht und Pribil gleich mit erledigt. Das klingt plausibel … Andererseits: Was hat David Neumann noch hier zu suchen? Und weshalb ist er ein weiteres Mal bei Pribil aufgetaucht? Wie gelangte seine Visitenkarte in Grinzingers Besitz? Und wie die verfluchte Nickelbrille, die jetzt wieder in der Jackentasche des Lemming steckt?
Muss das Leben so sein?, denkt er und fühlt schon wieder den Ärger in sich aufkeimen. Kann man denn nicht einmal in Frieden einen Mordfall lösen, ohne tagaus, tagein belogen, betrogen und hintergangen zu werden? Es ist Montag, der zwanzigste März, es ist der Abend vor Frühlingsbeginn. Über dem Haus Nummer fünf in der Roterdstraße steht voll und rund der Mond. Der Lemming bezahlt den erleichterten Taxifahrer und greift nach der notdürftig zusammengezwirbelten Bettlakenleine, um den Hund aus dem Wagen zu ziehen. Aber der ist schneller. Kaum hat der Lemming die Autotür geöffnet, wuchten sich neunzig Kilo Castro auf seinen Schoß, zappeln und strampeln, stoßen sich ab und zerren ihn hinaus in die Nacht. Schon stürmt der Koloss auf Klara Breitners Gartentor zu, wirft sich mit der Flanke dagegen, stößt es auf, schleift den Lemming hinter sich her über die Wiese. Castro ist nicht zu bändigen, wie ein geölter Blitz rast er zwischen den Bäumen hin und her, umkreist endlich eine junge Birke, stolpert über das Leintuch, überschlägt sich, kommt wieder auf die Beine und will weiterwirbeln. Aber das Spiel ist aus. Noch im Ansatz wird er zurückgerissen, vom Laken des Lemming gehalten, das dieser in Windeseile um den Baum geschlungen hat. Da steht er nun im fahlblauen Mondschein, der entfesselte, gefesselte Leonberger, und glotzt mit hängender Zunge zu Klara Breitners Häuschen hinüber.
Hinter den Fenstern flackert Kerzenlicht.
Der Lemming schleicht näher, lauernd, gebückt. Richtet sich an der Hauswand auf und späht durch die Glasscheibe. Ein Kamin. Eine Eckbank. Ein alter Bauerntisch. Gemütlich. Auf der Bank Klara Breitner. Ernst, ja sorgenvoll ihr Gesicht. Wieder verschlägt ihr Anblick dem Lemming den Atem. Neben der Frau ein blasser, schlanker Mann. Er hält den Kopf gesenkt, wirkt schuldbewusst. Gegenüber, den beiden anderen zugewandt, steht ein zweiter Mann im Halbdunkel. Er spricht und gestikuliert, als sei er sehr erregt. Sein wallender Bart bewegt sich im Takt seiner Worte. Es ist … Ja, es ist David Neumann.
Im selben Moment fängt Castro zu heulen an. Dumpf tönt sein Gewinsel von den Bäumen her, schwillt an, bahnt sich laut und immer lauter einen Weg aus der hochgestreckten Hundekehle, steigt über das Haus, über den Garten, steigt dem Vollmond entgegen. Castro heult wie ein Schlosshund.
«Ruhig! Castro! Ruhig!», zischt der Lemming erschrocken, aber zu spät. Schon bewegen sich unruhige Schatten hinter dem Fenster, und gleich darauf reißt Klara Breitner die Haustür auf.
«Castro!», stößt sie hervor. «Castro, mein Schatz!»
Sie läuft hinüber zur Birke, sinkt auf die Knie, umarmt und drückt und küsst den japsenden Hund, zieht ihn hinunter auf die Erde, rollt mit ihm durchs hohe Gras. Der Lemming sieht fassungslos zu, von der einzigen, plötzlichen Einsicht ergriffen: Castro ist Klara Breitners Hund. Deshalb hat sie sich gestern so sonderbar benommen. Und er spürt einen kleinen Stich im Herzen. Er kennt diesen Stich von früher, er kennt ihn aus Tagen der Eifersucht. Nur kann er sich hier nicht entscheiden, auf wen er eifersüchtiger ist: auf die Frau oder auf das Tier. Er hat auch gar keine Zeit dazu. Während Klara Breitner mit ihrem heimgekehrten Liebling beschäftigt ist, schlüpft der
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