Der Fall des Lemming
Hochzeit. Rosa wollte nicht bleiben, sie wollte nach Israel. Aber Hans hat gesagt: ‹Was soll ich in Israel? Haben die Kaffeekultur?› Kaffee, das war alles, was ist ihm geblieben, was hat ihn wirklich interessiert. Dieser Lederbeutel, den hat er gerettet aus Gusen und immer bei sich getragen, das war ihm wie ein Auftrag, zu eröffnen ein Kaffeehaus. So Rosa hat nachgegeben, aber sie hat eine Bedingung gehabt. Immer, ob Tag oder Nacht, sie sollten fortkönnen von Österreich. Liebermann, ein Kupferstecher, was hat auch gearbeitet für die Amerikaner, er hat Pässe gefälscht für die Familie, später auch noch, alle paar Jahre, für Hans und das Kind. Und ein Konto in der Schweiz hat Hans aufgemacht, wo haben die Neumanns regelmäßig Geld darauf gezahlt. Ein Drittel von was haben sie verdient. Ihr erstes Kaffeehaus war in der Innenstadt, ist groß gewesen und schön und gut besucht. Neunundfünfzig war Rosa dann schwanger, und Anfang sechzig David ist gekommen. Rosa ist gestorben, bei der Geburt …
Hans ist wieder leben geblieben. Nicht, dass er hätte wollen. Aber für David. Er hat sehr geliebt den Buben. Trotzdem: das Kind, das Geschäft, der Kummer … Ist alles doch zu viel gewesen für Hans. Mitte sechzig ich habe ihn untersucht: Angina Pectoris und später auch Herzmuskelschwäche.
Das Lokal ist nicht mehr gut gegangen. Obwohl David hat seinem Vater geholfen. Nach der Schule der Bub hat serviert und gekocht bis zum Abend. Aber damals war der Anfang vom Kaffeehaussterben in Wien, Sie wissen. Siebenundzwanzig Kaffeehäuser waren früher allein auf der Ringstraße; heute sind noch vier. Also in sechsundsiebzig Hans hat verkauft das Geschäft. Ist nach Döbling und hat geöffnet ein kleineres Lokal. Auf der Billrothstraße. Eine andere Wohnung haben sie auch genommen, sind gezogen direkt über das neue Kaffeehaus. Siebenundsiebzig war Renovierung und Umzug, und wieder David hat geholfen Tag und Nacht, was hat ihn schließlich ein Schuljahr gekostet. Wer kann schon machen alles auf einmal? Herbst siebenundsiebzig er hat die Schule gewechselt, hat sich eingeschrieben gegenüber im Gymnasium. Hans war dagegen, aber David wollte in der Nähe bleiben. Er hat ja gewusst, wie krank ist sein Vater.»
Wieder hält Ezer Kelemen in seiner Erzählung inne. Löst den Blick vom dichten Gewirr der Zweige und Blätter und sieht den Lemming an.
«Fahren Sie mich in die Sonne, junger Mann. Brauche ich … mehr Licht.»
Der Lemming tritt hinter den Alten und schiebt ihn behutsam aus dem Palmenhaus. Minutenlang ist nur das Knirschen der Kiesel unter den Rädern zu hören, dann ein flüchtiger Windstoß, der ein fernes Brüllen und Kreischen herüberträgt – die Geräusche der Tiere aus dem benachbarten Schönbrunner Zoo. Der Lemming steuert weg davon, nimmt einen anderen Weg.
«Und jetzt Sie wollen das Ende wissen», spricht Dr. Kelemen endlich weiter. «Gut. Das Ende also. Hat mich David angerufen an diesem Abend, und ich habe gewusst, was ist geschehen, bevor er hat zwei Worte geredet. Ich bin gleich gefahren hinüber mit dem Taxi; Freitagabend, schon finster, der Sabbat hat begonnen … Der Bub hat den Vater gelegt auf Kaffeehaustische, was hat er zusammengeschoben; unter den Kopf hat ihm Sitzpölster gegeben und rundherum Kerzen gestellt. Noch einer war da, Freund von David, der ist gesessen in der Ecke. War bissel weggetreten, der Knabe, ich weiß nicht, was hat er genommen …
Also ich habe untersucht den Leichnam, derweil David war vollkommen außer sich, ist hin und her wie verrückt gelaufen, hinaus bei der Tür und wieder herein, hinter die Theke, unter die Bänke, als möcht er etwas suchen. Hans war im Gesicht bläulich, Zyanose, wegen der Atemnot, es ist das typisch bei Angina Pectoris und Herzinfarkt, wenn ist zu wenig Sauerstoff im Blut. So ich habe den Totenschein geschrieben. Wissen Sie, wir Juden haben nicht so gern Autopsien; es ist gegen das Gesetz …»
«Und dann?», fragt der Lemming leise.
«David hat weggeschickt seinen Freund. Hat ihm noch etwas gemurmelt wie ‹Ich krieg die Sau. Irgendwann krieg ich …› Natürlich, ich habe gewusst, wen meint er mit Sau.
Dieser Lehrer … Aber trotzdem habe ich nicht verstanden: Kann ein Nebbich von Lehrertrottel tun, was ist nicht einmal Gusen gelungen? Hans Neumann in den Tod treiben?
Jedenfalls, David hat mich gebeten zu bleiben. Wegen der Totenwache. Er konnte nicht selber, er war zu … aufgeregt. Also ich bin bei Hans geblieben, und
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