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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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dass ihre Mutter vor wenigen Jahren gestorben war und dass sie die Osteria nun gemeinsam mit ihrem Vater und einem kürzlich angeheuerten Koch betrieb.
    Janni hielt sich zurück, blieb geduldig, und seine Geduld sollte Früchte tragen. Kaum zwei Wochen später wurde der Koch gekündigt, wurde von Signore Arcangeli quer durch das voll besetzte Lokal gezerrt und hochkant hinausgeschmissen. Er hatte seine Hände wohl nicht da gelassen, wo sie hingehörten – bei den Töpfen und Pfannen nämlich. Janni erbot sich sofort, für ihn einzuspringen. Und so stand er noch am selben Abend am dampfenden Herd, neben Raffaella, und er schwang den Kochlöffel wie der mächtigste aller Magier seinen Zauberstab. Nachdem die letzten Gäste gegangen waren, trat er hinter die Schank, zur Espressomaschine. Mit brühendem Wasser erwärmte er drei Tassen und den flachen Edelstahlfilter, füllte diesen dann mit dem duftenden, fein gemahlenen Kaffeepulver, das er mit leichtem Druck zusammenpresste. So sehr war er plötzlich in sein Tun vertieft, dass er dem Wirt und seiner Tochter keine Beachtung mehr schenkte. Die beiden saßen an einem der Tische, vor sich einen Haufen Rechnungen und Einkaufslisten, und ihr Gespräch war wie auf ein Zeichen verstummt. Mit skeptischen Blicken schauten sie Janni zu, dem Fremden, der sich ohne jedes Zögern an ihrer chromglänzenden Macchina zu schaffen machte, als habe er sie selbst gebaut. Janni wusste, was er tat. Mit flinken Fingern setzte er den Filter ein, schob eine der Schalen darunter, prüfte nebenbei die Temperatur, den Wasserdruck, sah auf die Uhr, schaltete, waltete, werkte, klopfte das Sieb aus, begann die ganze Prozedur von neuem. Er hielt die erste, schon gefüllte Tasse ein wenig schräg, kontrollierte die Crema , das krönende Häubchen auf jedem guten Espresso, fest und goldbraun und leicht marmoriert. Erst als er fertig war und mit dem Tablett um die Theke bog, erwachte er aus seiner Versunkenheit, und sein Blick begegnete dem Raffaellas. Da vermeinte er, auf ihrem Gesicht den Anflug eines Lächelns zu erkennen. Nachdem er den ersten Schluck genommen hatte, lächelte auch ihr Vater. «Perfetto», nickte er Janni zu, «perfetto.»
    Ja, am Ende war alles ganz einfach. Am Ende stand ein neuer Anfang.
    Janni sollte Triest so bald nicht mehr verlassen. Ein halbes Jahr später heiratete er Raffaella. Und nach einem weiteren Jahr kam ihre Tochter Amanda auf die Welt. Es war eine große Zeit, eine glückliche Zeit für Raffaella, für ihren Vater und für die Osteria. Was Janni betraf, so war sie das Siegel auf seiner langen Reise des Vergessens.

18
    Er sitzt eingehüllt zwischen Palmen und Orchideen; die Sonne schillert warm durch die hohe, gläserne Kuppel und tanzt in kleinen, hellen Flecken auf seiner Decke, auf seinem Schoß. Ezer Kelemen ist ein sehr alter Mann. Der Lemming hat ihn abgeholt, in seiner Wohnung in der Tivoligasse, und hat seinen Rollstuhl dann quer durch den Schönbrunner Schlosspark bis zum Palmenhaus geschoben. Es war ein Schweigemarsch durch die breiten Alleen, still und ergeben wie die geometrisch gestutzten, in ihr barockes Korsett gezwungenen Büsche und Bäume am Wegrand.
    Zunächst hat Doktor Kelemen den Lemming gar nicht empfangen wollen. «Vielen Dank, habe ich schon!», hat er mit ungarischem Akzent durch den Türspalt gebellt. «Fragen Sie nur Ihren Springerstiefelkameraden!» Aber als er erfuhr, dass sein Besuch auf Bernatzkys Empfehlung gekommen war, hat er sich mit einem verärgerten «Soll sein … aber spielen Sie sich nicht – mir ist genug ein Arschloch in der Woche!» zu einem Spaziergang, nein, zu einer Spazierfahrt bereit erklärt. Und hier sind sie gelandet, in diesem funkelnden Palast aus Eisen und Glas, auf einer winzigen Lichtung inmitten der Tropen. «Wenn immer geht, komme ich her», sagt Doktor Kelemen jetzt. «Man hat warm hier und ist trotzdem … schwerelos …»
    «Ja», sagt der Lemming, der auf einer Gartenbank Platz genommen hat, und betrachtet verstohlen das Gesicht des anderen. Grau ist es und voller kleiner Falten, die sich über Hals und Mund und die scharfe Nase entlang bis rund um die Augen ziehen, tiefe Augen, dunkel und wachsam, die Augen eines zum steinernen Wolf gewordenen Kindes.
    «Wenn Sie lange noch warten, werde ich tot sein. Was wollen Sie?»
    «Das … also das Arschloch … Er ist schon lange nicht mehr mein Kollege. Im Gegenteil … Ich möchte ihm eher eins … auswischen.»
    «Ich sage letztes Mal, spielen Sie

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