Der Fall des Lemming
Lemming auf Zehenspitzen durch die offene Tür ins Haus.
Ihm bleibt nicht viel Zeit. Zügig, alle Sinne gespannt, schleicht er an der Wand entlang über den knarrenden Bretterboden, hält auf die Bauernstube zu, biegt dann nach rechts, tappt weiter im sich verfinsternden Flur, passiert eine Schwelle, ertastet Keramikfliesen, offenbar das Badezimmer, schließt vorsichtig die Tür hinter sich. Er stößt mit dem Knie an die Kante der Badewanne, krümmt sich zusammen, tappt weiter, schlägt mit dem Schienbein gegen die Klomuschel, verbeißt sich ein weiteres Mal den Schmerz und lässt sich auf der Toilette nieder. Nur ruhig, Lemming. Erst einmal überlegen. So ein Lauschangriff will wohl durchdacht sein …
«Ist das Ihres?»
Klara Breitner steht im erleuchteten Türrahmen und streckt dem Mann auf der Klobrille sein Leintuch entgegen.
Wie oft hat der Lemming davon geträumt, unsichtbar zu sein. Als Kind hat er einmal eine Detektivgeschichte gelesen, deren Held eine Tarnkappe besaß. So konnte er die Bösen belauern und die Guten beschützen, und er konnte sich nebenher noch allerhand lustige Späße erlauben, ohne je dabei ertappt zu werden. Was gäbe der Lemming jetzt für so eine Tarnkappe. Er will niemanden belauern, er will niemanden beschützen, er will auch niemandem lustige Streiche spielen. Er möchte nur eines: nicht hier sein. Weit weg sein. Ja, es würde ihm schon genügen, ganz rasch so klein zu werden, wie er sich gerade fühlt, nur um sich mit einem Achselzucken selbst ins Klo zu spülen.
Castro ist schuld. Castro hat ihn aufgespürt. Natürlich, Hunde haben eine gute Nase … Jetzt tänzelt der Leonberger mit wedelndem Schwanz auf ihn zu und legt ihm den schweren Kopf in den Schoß. Richtet sich wieder auf und blickt treuherzig zwischen Klara Breitner und dem Lemming hin und her wie ein Kind, das seine Eltern wiedergefunden hat.
«Kommen Sie mit. Falls Sie hier fertig sind …» Sichtlich angewidert wendet sich Klara Breitner ab.
«Hören Sie», sagt der Lemming leise. «Ich bin nicht das, wofür Sie mich halten …»
«Ach! Sie sind also kein verlogener, schmieriger Hundedieb und Erpresser! Sie schleichen auch nicht in anderer Leute Häuser, um ihnen etwa mit … der Polizei zu drohen? Reicht es Ihnen nicht, wenn Sie das beschissene Rauschgift meines Bruders behalten? Dieser Tierquäler ist ohnehin schon gestraft genug – mit mir!»
Sie ist so schön, denkt der Lemming. Nein, schön ist untertrieben … Sie ist der himmlische Engel des Zorns, und sie trägt ein leuchtendes Mal auf der Stirn, eine kleine, blaue, pulsierende Ader, wenn sie sich ärgert …
«Ich will nichts von Ihrem Bruder …», murmelt er. «Ihr Gast … David Neumann … mit ihm würde ich gerne sprechen …»
Seine Worte zeigen überraschend große Wirkung. Halb erschrocken, halb verblüfft, reißt Klara Breitner die Augen auf. Die blaue Ader ist von ihrer Stirn verschwunden.
«Sind Sie etwa … Waren Sie heute auf dem Heldenplatz?»
«Ja.»
«Sind Sie … Polizist?»
«Nein. Es ist privat … Privatvergnügen.»
«Bewaffnet?»
«Nein. Sie können mich … durchsuchen.» Und er wünscht sich im Stillen, sie täte es.
Aber Klara Breitner sieht den Lemming nur prüfend an, atmet dann durch, atmet auf.
«Warten Sie hier», meint sie. «Wahrscheinlich haben Sie Recht … Es wird Zeit zu reden!«
Ruhig ist es in der Bauernstube. Doch bald werden gedämpfte Stimmen laut, sonor und gereizt die David Neumanns, rauchig und sanft jene von Klara Breitner. Ein knappes Wortgefecht, gefolgt von entscheidungsschwerer Stille, und endlich öffnet sich die Tür einen Spalt.
Mit einem Mal fühlt sich der Lemming an Weihnachten erinnert, an früher, als er noch klein war und seine Eltern noch lebten. Alle Jahre wieder ist er gespannt und voller Erwartung auf dem kalten Flur gestanden, vor dem verbotenen Zimmer, während die Eltern den Christbaum schmückten, die Geschenke drapierten und miteinander stritten. Das Warten schien damals kein Ende nehmen zu wollen, aber schließlich nahte er doch, der große Moment, eingeläutet vom silberhellen Klang der Weihnachtsglocke … Und die Pforten taten sich auf, und dahinter strahlte das Licht, die Verheißung … Der Lemming wäre nicht weiter erstaunt, wenn Klara Breitner jetzt mit einem Glöckchen klingeln würde.
«Sie können hereinkommen.»
Warm ist es in der Stube. David Neumann steht abgewandt und starrt in die Glut des Kamins. Der Lemming lässt ihn nicht aus
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