Der Fall des Lemming
den Augen, während er näher tritt und sich auf ein Zeichen der Gastgeberin seiner Jacke entledigt. Er möchte sich nicht erschlagen, erstechen, verwursten lassen. Er ist auf der Hut. Der Angriff kommt dennoch unerwartet, denn er kommt von hinten.
«Wo hast du mein Dope gelassen, du … miese Kröte?»
Der blasse Mann hat sich halb von der Bank erhoben und droht dem Lemming mit knöcherner Faust. Eine schwarze Haarsträhne fällt ihm über das schmale Gesicht, hübsch sieht das aus, beinahe dekorativ, dieses gängige Markenzeichen zorniger Expressionisten oder leicht entflammbarer Jungpolitiker. Trotzdem wirkt er müde und unkonzentriert, seine Augenlider hängen auf Halbmast, seine Schultern sind gebeugt, so als trügen sie eine schwere Last.
«Kusch, Max!» So scharf tönt es aus Klara Breitners Mund, dass der Lemming zusammenzuckt. Da ist sie wieder, die kleine blaue Ader auf ihrer Stirn.
«Du wirst dich sofort bei dem Mann … Wie heißen Sie überhaupt?»
«Lem … Wallisch. Aber meine Freunde nennen mich …»
«Du wirst dich sofort bei dem Mann … bei Herrn Wallisch entschuldigen! Und bedanken! Wenn hier jemand eine miese Kröte ist, dann … du, Max, du mit deinen ständigen Trottelaktionen! Wer hat Castro fast um die Ecke gebracht? Sag schon! Wer?»
Das hat gesessen. Klaras Bruder sinkt kraftlos zurück. Dann murmelt er: «Entschuldigung … Und danke, dass Sie ihn … dass er wieder da ist.»
Aus der hinteren Ecke des Raumes lässt Castro ein wohliges Grunzen vernehmen. Er scheint begriffen zu haben, dass er im Mittelpunkt des Gespräches steht. So ist es gut. So soll es immer sein. Gleich darauf fängt er zufrieden zu schnarchen an.
«Was wollen Sie von mir?»
David Neumann ist an den Tisch getreten und mustert den Lemming mit seinen klaren grünen Augen.
«Wissen Sie das denn nicht, Herr Neumann?»
Schweigend zieht der andere einen Stuhl heran, dreht ihn um hundertachtzig Grad und setzt sich, die Lehne zwischen den Oberschenkeln.
«David Neumann», sagt er langsam, «ist tot. Ich heiße Diodato. Janni Diodato.»
«Gut, Herr … Diodato …»
«Was wollen Sie von mir?»
So hat es keinen Sinn. Einmal mehr wird dem Lemming klar, dass er selbst den ersten Schritt machen, dass er sich preisgeben muss. Argwohn gegen Misstrauen, das ist und bleibt ein ewiges Nullsummenspiel. Und so beginnt der Lemming zu erzählen, was er schon Sedlak und Steinhauser erzählt hat, und er stellt erleichtert fest, dass sich die Stimmung im Raum zusehends entspannt. Er berichtet von Cernys gelbem Kuvert, von jenem schicksalsschwangeren Auftrag, beschreibt seine Fahrt auf den Kahlenberg, Grinzingers Marsch durch den Wald, und endet mit den Worten: «Dann habe ich ihn gefunden, auf der Wiese, tot. Ja, ich hab’s versaut. Und es hat mich den Job gekostet …»
«Dann waren Sie das!», entfährt es Max Breitner. «Verstehst du, Janni, er war der Typ, den wir da unten gesehen haben!»
«Offensichtlich», meint der Angesprochene ruhig.
«Und Castro?» Klara Breitner beugt sich vor. In ihren Pupillen schimmert das Kerzenlicht. Der flüchtige Hauch eines Lächelns umspielt ihren Mund. «Wo haben Sie Castro gefunden?»
«Danach, weiter oben im Wald. Er war ein wenig … verwirrt.»
«Gut, Herr Wallisch. Dann bin jetzt wohl ich dran …» Janni Diodato fährt sich mit der Rechten durchs gewellte Haar und räuspert sich. «Wo soll ich anfangen?»
«Waren Sie es? Haben Sie ihn umgebracht?»
«Nein. Zugegeben, ich hätte gern … Aber ich bin es nicht gewesen. Anfang März habe ich diesen Brief bekommen … Nein, ich muss früher beginnen. Im Jänner. Sie wissen, dass ich in Triest lebe?»
«Ja. Osteria Arcangeli .»
«Alle Achtung. Wie sind Sie drauf gekommen?»
«Ihre Visitenkarte. Ich habe sie in Grinzingers Brieftasche gefunden.»
«Verstehe … seltsam … egal. Also Mitte Jänner war diese Gesellschaft in meinem Ristorante. Betriebsausflug, Sie wissen, wie so was vor sich geht. Die Leute besuchen irgendeine kulturträchtige Stadt, fressen und saufen sich an, versuchen, einander ins Bett zu kriegen, und fahren am nächsten Tag wieder heim. Das war’s üblicherweise. Zu Hause versuchen sie dann, alles wieder zu vergessen. An diesem Abend ist es nicht anders gewesen, mit einem Unterschied: Die hatten keinen Tisch reserviert. Wenn ich gewusst hätte, wer mir da ins Haus steht, ich wäre niemals aus der Küche herausgekommen. Aber so … bin ich plötzlich dem Peter Pribil
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