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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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gegenübergestanden … Schwer zu sagen, wer schockierter war, aber wahrscheinlich er; immerhin dachte er, ich sei seit zwanzig Jahren … Jedenfalls, auf den ersten Schrecken haben wir einen getrunken und haben uns unterhalten, aber nicht lange. Ich habe ihm gesagt, dass ich fertig bin mit meiner Vergangenheit. Dass ich Familie habe und ein neues Leben. Dass ich meine Ruhe haben will. Und dass er um Himmels willen niemandem in Wien von Janni Diodato erzählen soll. Der Mistkerl … wahrscheinlich hat er damals die Visitenkarte eingesteckt; die liegen stapelweise bei uns im Lokal herum … Ein paar Wochen später, Anfang März, kam der Brief. Absender: Dr.   Friedrich Grinzinger … Klara, ist noch von dem Grappa da?»
    Klara Breitner nickt.
    «Sicher. Und Sie?»
    «Gerne», sagt der Lemming.
    «Krieg ich auch …» Kaum getraut sich Max Breitner zu fragen. Seine Schwester steht auf, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, kehrt aber bald mit einer Flasche und vier Gläsern zurück.
    «Salute, die Herren …»
    «Salute.»
    Ein guter Grappa. Er wärmt von innen und beruhigt die Nerven.
    «Grinzinger hat Ihnen geschrieben?», nimmt der Lemming das Gespräch wieder auf.
    «Ja. Das hat er. In dem Brief stand, dass er von meiner Existenz erfahren hat. Dass er nun meine Rache fürchtet und unseren alten Zwist begraben will. Und dass er …»
    «Dass er?»
    «Dass er … mir etwas zu zeigen hat. Einen Beweis für seine Unschuld am … Tod meines Vaters.»
    Janni Diodato starrt in sein Glas. Nimmt einen Schluck, als wolle er alte, zu oft erinnerte Zeiten verscheuchen. Kurz senkt sich eine schwere Stille auf die Tischgesellschaft. Nur Castros tiefes Schnarchen ist zu hören.
    «Und daraufhin … sind Sie nach Wien gefahren?»
    «Er schrieb, wir sollten uns treffen. Am Fünfzehnten, hat er geschrieben, werde er auf dem Kahlenberg sein. Er hat auch gleich den Weg erklärt, von der Bushaltestelle bis zu dieser Schneise am Waldrand, Sie wissen schon, Sie waren ja da … Auf der Wiese hinter den Büschen werde er mich erwarten. Punkt vierzehn Uhr dreißig, nicht früher, nicht später … Ja, ich bin nach Wien gefahren. Die Vergangenheit hatte mich wieder eingeholt.»
    «Um halb drei am Nachmittag, sagen Sie?»
    «Ja. Und dass ich alleine kommen soll.»
    «Sind Sie aber nicht …»
    «Es war mir zu heikel. Ich habe Angst gehabt … vor mir selbst, vor meiner Reaktion, vor meinem alten Hass. Und da habe ich mich an Max gewandt. Er war der Einzige, der damals in der Schule zu mir gehalten hat … auch an dem Abend, als … Er war mein einziger Freund.»
    Max Breitner hebt langsam den Kopf. Ein feuchter Glanz tritt in seine Augen.
    «Danke, David», murmelt er leise.
    «Aber woher», fragt der Lemming, «hatten Sie seine Adresse? Ich habe vergeblich im Telefonbuch gesucht …»
    Es ist Klara Breitner, die antwortet: «Max und ich, wir wohnen beide hier in der Roterdstraße. Schon seit unserer Kindheit. Sie müssen verzeihen, Herr Wallisch … eine kleine Notlüge in Zeiten wie diesen …»
    Und wieder ein Lächeln. Das Lächeln der Klara Breitner.
    «Alles vergeben», meint der Lemming, «aber nicht vergessen …» Leise schmunzelnd sucht sein Blick ihre Augen. Und er bleibt ein wenig länger darin hängen, als es angemessen wäre, jene Zehntel-, jene Hundertstelsekunde vielleicht, die den schmalen Grat zwischen Unverfänglichkeit und Zuneigung beschreibt.
    Aber schon spricht Janni Diodato weiter: «Ich hatte Glück, dass Max zu Hause war. Er ist erst am Tag zuvor aus Marrakesch heimgekehrt …»
    «Mit Castro …», nickt der Lemming.
    «Geschäftsreise …», sagt Max.
    «Idiot!», zischt Klara.
    «Cave canem …»
    «Cave cannabis!»
    «Wenn ihr beiden fertig seid, würde ich gerne …»
    «Entschuldige, Janni.»
    «Wo war ich …? Also, Max ist ziemlich verblüfft gewesen, als ich vor der Tür stand. Aber er hat mir sofort seine Hilfe angeboten. Und so sind wir tags darauf gemeinsam auf den Kahlenberg gefahren. Den Hund mussten wir mitnehmen; Max wollte ihn nicht aus den Augen lassen, Sie wissen schon, warum.»
    Der Lemming nickt. «Verdauungsüberwachung …»
    «Außerdem hat er meinen Zorn gefürchtet», schnaubt Klara Breitner. «Ich hatte ja keine Ahnung … Der Kerl hat mir nur gesagt, dass er mit Castro ein paar Tage ins Grüne fährt. Und nicht, dass er ihn in Marokko mit Rauschgift voll stopfen will!»
    «Ist ja gut, Klara … Der Hund war also mit. Deshalb haben wir auch nicht den Bus

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