Der Fall des Lemming
genommen, sondern sind mit dem Auto gefahren, an der Donau entlang nach Klosterneuburg und dann von hinten den Berg hinauf. Eine schmale, steile Gasse, sehr kurvenreich, aber sie führt fast bis zu der Wiese am Waldrand …»
«Scheißschmal sogar», unterbricht Max. «Ums Haar hat uns dieses Arschloch mit seinem silbernen Protzmobil gerammt, einer von diesen reichen Säcken mit ihren Luxusvillen da oben …»
«Als der Weg zum Fahren zu eng wurde, haben wir in einer Garteneinfahrt geparkt und sind das letzte Stück gelaufen. Und als wir endlich an der Schneise waren …»
«… ist Castro ausgerissen», ergänzt Max Breitner händeringend.
«Es war schon halb drei, und so blieb uns keine Zeit mehr, um den Hund zu suchen; wir wollten das nachher tun, wenn alles vorbei ist … Ja, und dann haben wir durch die Büsche geschaut …»
«… und haben die Leiche gesehen …»
«… und einen unbekannten Mann, der sich darüber gebeugt hat …»
«… Sie, Herr Wallisch …»
«… offensichtlich …»
Janni Diodato runzelt die Stirne und räuspert sich. «Wir wussten nicht, was wir machen sollten. Castro im Wald verschwunden, zum Platzen gefüllt mit Haschischöl, Grinzinger unten auf der Wiese, mit eingeschlagenem Schädel. Daneben ein völlig Fremder, der Mörder möglicherweise … Und wir beide hinter den Büschen: Max, der Rauschgiftschmuggler, und ich, der längst verstorbene Todfeind Grinzingers mit dem gefälschten Pass in der Tasche. Sie werden verstehen, Herr Wallisch, wir hatten kein besonderes Interesse daran, unter diesen Umständen der Polizei zu begegnen …»
«Und ausgerechnet die haben wir in dem Moment kommen gehört …», fügt Max Breitner hinzu.
«Wir sind also, so rasch es ging, zum Auto gelaufen, sind den Berg hinuntergerollt, bis die Streifenwagen um die Ecke kamen, und haben uns dann unter die Sitze geduckt. Als sie vorbei waren, sind wir nach Wien zurück …»
«Und habt Castro alleine im Wald gelassen …» Klara Breitner kann es sich nicht verkneifen. «Bravo, ihr Helden!»
«Ich weiß, Klara …» Janni Diodato zuckt zerknirscht die Achseln. Dann blickt er dem Lemming ins Gesicht und sagt: «Sehen Sie, und darum bin ich noch in Wien. Ich möchte nicht umsonst gekommen sein, ich will wissen, was hinter der Sache steckt. Deshalb muss ich auch mit dem Pribil sprechen – immerhin ist er der Einzige, der dem Grinzinger von mir erzählt haben kann. Heute Nachmittag, kurz bevor Sie mich am Heldenplatz gestellt haben, war ich bei ihm zu Hause. Aber …»
«Ich weiß», meint der Lemming. «Ich war auch da. Aber … mit dem Pribil kann keiner mehr sprechen …»
20
Es geht auf elf. Die Kerzen sind heruntergebrannt, und Klara Breitner räumt die Teller ab. Nach dem Bericht des Lemming von den Ereignissen am Hohen Markt und von Peter Pribils letzter Ruhestätte in Krotznigs Magen hat sie eine Jause aufgetragen. Brot, Käse, Tomaten, Wurst. Die Wurst ist allerdings unangetastet geblieben. «Was soll ich jetzt tun?», fragt Janni Diodato. «Was soll ich nur tun? Ich verstehe nichts mehr. Gar nichts mehr …»
Der Lemming weiß keine Antwort. Kaut versonnen an einem Stück Brotrinde. Trinkt einen Schluck von dem Rotwein, der vor ihm auf dem Tisch steht. Gedankenfetzen wirbeln durch seinen Kopf, lose Fragmente möglicher Theorien, die sich im Ansatz schon selbst widersprechen, sich durchwegs in nichts auflösen. Was, wenn Janni gelogen hat? Dann müsste er den Mord am Kahlenberg gemeinsam mit Max Breitner verübt haben. Immerhin eine mögliche Erklärung dafür, dass Grinzinger hinterrücks erschlagen wurde, während er mit der Polizei telefonierte, einen der beiden Schüler im sicheren Blickfeld, den anderen im Rücken, unbemerkt … Aber nein. Wozu hätten die beiden nach vollbrachter Tat ausharren sollen, bis er, der Lemming, die Leiche durchsuchte? Und wenn sie auch Peter Pribil auf dem Gewissen hätten, wozu sollte Janni tags darauf bei ihm zu Hause erscheinen?
Es besteht kein Zweifel, dass die beiden die Wahrheit sagen. Leider. Denn das Rätsel wird dadurch kein bisschen leichter, im Gegenteil …
Der Lemming versucht, sich zu konzentrieren. Dieser Brief … Grinzingers Brief nach Triest … Warum hat er Janni erst um halb drei auf die Wiese bestellt, wenn er selbst schon um zwei Uhr da war? Wieso eine halbe Stunde später? Wollte er noch mit der Lateinerseele baumeln, ein wenig frische Waldluft schnuppern? Oder gedachte er, verborgene Stolperstricke
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