Der Fall des Lemming
anzubringen, heimtückische Fallgruben auszuheben, um den Feind mit römischer Feldherrenlist in einen Hinterhalt zu locken?
Alles Blödsinn, entscheidet der Lemming. Was zählt, was zählen muss, sind die Fakten. Nichts als die Fakten …
«Haben Sie den Brief bei sich? Darf ich ihn sehen?»
«Moment.» Janni Diodato geht aus dem Zimmer, um kurz darauf mit einem weißen Kuvert zurückzukehren. «Hier ist er.»
Der Lemming zieht den Bogen aus dem Umschlag und liest. Der Inhalt des Schreibens bringt keine neuen Aufschlüsse; alles steht so da, wie Janni es gesagt hat. Einfache, unpersönliche Worte, auf dem Computer getippt, allenfalls auf einer elektrischen Schreibmaschine. Der Briefkopf weist Grinzingers Namenszug auf, aber weder Adresse noch Telefonnummer. Unter dem Text ein kleiner, mit dem Kugelschreiber zügig aufs Papier geworfener Krakel, die Unterschrift des Lehrers. Noch einmal nimmt der Lemming das Kuvert zur Hand. Es trägt keinen Absender. Auf der Vorderseite Jannis Triestiner Anschrift, sauber und ordentlich auf ein selbstklebendes Etikett gedruckt.
Der Lemming seufzt und lehnt sich zurück. Tief in seinem Inneren klingt ein vages Gefühl des Befremdens an, der Ungereimtheit, der nebulösen Widersprüche. Er muss diese Ahnung nur noch benennen, nur noch in Worte fassen. Die Lösung liegt direkt vor seinen Augen, da ist er ganz sicher, und doch vermag er sie nicht zu greifen. Sein Blick ist getrübt von nervösen Theorien, von Trugbildern und falschen Annahmen; einmal mehr hat ihm die Phantasie ein Schnippchen geschlagen, hat sich zwischen ihn und die Wirklichkeit geschoben. Plötzlich steigen Erinnerungsbilder von seinem Besuch bei Grinzingers Witwe auf, von der düsteren, unpersönlichen Wohnung des Lehrers. Die alten, wertlosen Drucke an der Wand, das Holzkreuz, der betagte Fernsehapparat … Dieses Zimmer … Und jetzt dieser Brief … Sachlich, kühl und modern ist der Brief, er spricht eine andere Sprache, stammt aus einer anderen Zeit als die antiquierte Lehrerwohnung. Das ist es! Der Kontrast könnte größer kaum sein!
Im Kamin lodert jetzt wieder das Feuer auf; Max Breitner hat Holzscheite nachgelegt. Seine Schwester kommt herein, stellt eine neue Flasche Wein und einen Krug Wasser auf den Tisch. Castro schnarcht in seiner Ecke. «Frau Breitner, darf ich telefonieren?»
«Natürlich. Sie können oben, im ersten Stock … Warten Sie, ich zeig es Ihnen. Möchten Sie Kaffee?»
«Sehr gerne.»
Es bedarf keiner Bitte, keiner Aufforderung. Augenblicklich erhebt sich Janni Diodato von seinem Platz, um in die Küche zu gehen. Der Meister der Bohne weiß die Würde seiner Kunst zu wahren …
Kurz darauf sitzt der Lemming, wo zu sitzen er kaum je gehofft hätte – in Klara Breitners Schlafzimmer, auf Klara Breitners großem Doppelbett. Daneben, auf dem Nachttisch, stehen zwei Dinge, und sie stehen im Widerstreit: ein Telefon, das dazu drängt, Nora Grinzinger anzurufen, und ein Wecker, dessen Uhrzeit davon abrät. Der Lemming nimmt den Hörer ab und wählt.
«Geburtsstation Witwenglück, was kann ich für Sie tun?»
«Äh … «
«Hallihallo, hier Gasthof zur ewigen Waldesruh …»
«Ich glaube, ich habe mich …»
«Bist du das, Toni?»
«Nein … Frau Grinzinger?»
«O verzeihen Sie, ich hab Sie velwech … verwechselt … Wer spricht denn?»
Nora Grinzinger ist schwer zu verstehen. Im Hintergrund erschallt lebhaftes Stimmengewirr, garniert mit fröhlicher Operettenmusik. Auch scheint die Witwe nicht eben nüchtern zu sein; ihre Stimme klingt reichlich undeutlich.
«Wallisch hier. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern …»
«Aber ja! Der junge Herr Kosi … Kommissar! Möchten S’ nicht persönlich kommen? Ich hab ein kleines … ein kleines … Gesellschaft heute!»
«Das ist sehr nett, danke, aber ich … hätte nur eine kurze Frage.»
«Nein, so was … Sie sehen mich bass erstaunt, Herr Waschi … immer im Dienst, unsere brave Bozi … lei … Na, sagen S’ schon, was haben S’ denn noch auf dem Herzen?»
«Es geht um Ihren Mann …»
«No na. Um meine Hühneraugen wird es gehen …»
«Also, Ihr Mann … Hat der einen Computer besessen? Oder eine elektrische Schreibmaschine?»
Verblüfftes Schweigen am anderen Ende der Leitung. Nur die Musik ist zu vernehmen, eine Melodie von Franz Lehár, wie der Lemming zu erkennen glaubt. Aber schon bald ertönt ein verhaltenes Glucksen, und Nora Grinzinger fängt lauthals zu lachen an.
«Computer?
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