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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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durch die feindlichen Reihen geschlichen und den Wienern zum Sieg verholfen haben. Und es heißt, dass er als Belohnung statt Gold und Edelsteinen nur ein paar Säcke mit obskuren braunen Bohnen wollte, die die flüchtenden Türken zurückgelassen hatten …
    Volksschullegenden. Der Diodato war’s. Ein Glück, sonst hätte mir mein Vater am Ende noch den Namen Kolschitzky verpasst …
    Zurück zu diesem Freitag … Mein erster Impuls war, mich wirklich umzubringen. Und dann habe ich daran gedacht, den Grinzinger zu ermorden. Aber ich glaube, ich wollte Zeit vergehen lassen, um ihm gegenüberzutreten, wenn er längst nicht mehr damit rechnet. Ich wollte den Scheißkerl eines Tages zu Tode erschrecken. Auge um Auge … Der Grinzinger sollte auch seinen Herzschlag haben … Also habe ich diesen Abschiedsbrief geschrieben und dann ein Taxi zur Erdberger Lände genommen. Habe mich unten am Donaukanal umgezogen, mein Gewand und den Brief in eine Rettungszille gelegt und sie losgebunden. Der echte Pass steckte in meiner Jacke im Boot, um es der Polizei ein wenig leichter zu machen. Den brauchte ich ja nun nicht mehr, dachte ich, David Neumann ist also mit der Zille den Kanal hinuntergetrieben, zum Praterspitz, in die Donau. David Neumann war nicht mehr … Und Janni Diodato ist als Volltrottel ins Leben getreten … Am Montag, als ich in Zürich das Geld holen wollte, hat mich ein Herr vom Schweizer Bankverein um meinen Ausweis gebeten. Ein freundlicher Mensch … ‹Leider›, hat er gesagt, ‹sind Sie, Herr Diodato, für das Konto von Hans und David Neumann nicht zeichnungsberechtigt. Sie können aber gerne ein eigenes eröffnen …›»
    «Verdammtes Pech …»
    «Dummheit. Und glauben Sie mir: Ich habe dafür bezahlt … Ein einfaches Ticket nach Aubagne in Südfrankreich habe ich bezahlt. Keine Rückfahrkarte. In Aubagne befindet sich das Quartier Vienot, die Zentrale der Fremdenlegion …»
    «Sagen Sie bloß, Sie sind …»
    «Ja, ich bin. Ein Jahr Grundausbildung in Castelnaudary, zwei Jahre beim fünften Regiment auf Mururoa und zwei weitere in Französisch-Guayana. Und als ich die Legion Ende dreiundachtzig verlassen habe, waren die alten Schatten verblasst. Meine Zeit in Wien, mein Leben als David Neumann, mein Rachedurst … nur noch verwehte Spuren, unscharfe Traumbilder … Verstehen Sie mich richtig: Triest ist mir längst zur Heimat geworden, ich führe da ein gut gehendes Restaurant, seit vor drei Jahren mein Schwiegervater gestorben ist, ich habe eine großartige Familie, eine wunderbare Frau, eine Tochter, die ich über alles liebe …»
    «Und dann kommt dieser Brief ins Haus geflattert, direkt aus dunkelster Vergangenheit … Plötzlich sitzen Sie hier in Wien, existieren im Grunde gar nicht und müssen trotzdem beweisen, dass ein gewisser Janni nicht getan hat, wozu ein gewisser David allen Grund gehabt hätte. Weil sonst beide ins Gefängnis wandern. Und obendrein müssen Sie erfahren, dass Ihr Vater möglicherweise … Herr Diodato, ich bin nie ein besonderer Glückspilz gewesen, aber mit Ihnen möchte ich nicht tauschen …»
    «Wird Ihnen auch schwer fallen. Es sei denn, Sie haben einen geschickten Fälscher zur Hand.»
    «Ich könnte ja Ihren fragen. Den Kupferstecher …»
    «Das würde mich wundern. Liebermann müsste schon weit über neunzig sein …»
    «Ich bitt euch, Kinder, das bringt uns doch nicht weiter!» Klara Breitner runzelt verärgert die Stirn. «Die Frage ist: Wer hat den Grinzinger umgebracht? Wer hat den Pribil auf dem Gewissen? Und wer könnte damals ins Kaffee Neumann gegangen sein, um deinem Vater das Leben … na ja, zumindest die Brille zu nehmen, während du dem Grinzinger nachgerannt bist? Wer …» Hier hält sie unvermittelt inne und sieht zu ihrem Bruder hin. «Max, was ist los mit dir?» Jetzt bemerken es auch die anderen: Max Breitner scheint völlig weggetreten zu sein. Sein Blick wirkt starr, in endlose Fernen gerichtet, während sein Körper vor- und zurückwippt, unausgesetzt und in immer rascherem Rhythmus wie der eines Rabbis an der Klagemauer. «Max!»
    «Wenn ich nur wüsste …», ächzt Max mit gepresster Stimme, «wenn ich nur wüsste …»
    Dann kehrt er zurück in die Gegenwart. Springt auf und beginnt, rastlos im Zimmer auf und ab zu laufen. «Scheiße! Wenn ich nur wüsste …»
    Er zügelt seine Schritte, bleibt endlich stehen.
    «Ich war schon vorher da …», ruft er, «versteht ihr? Vorher!»
    Keiner versteht. «Vor

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