Der Fall des Lemming
und Tempo. Aber dann …
Sie haben beide zugleich zu sprechen begonnen, scheinbar belanglos und doch atemlos, so als sei die plötzliche Befangenheit des Lemming auf Klara Breitner übergesprungen.
«Ich werde …»
«Sie können …»
Verschämtes Kichern.
«Wollen Sie zuerst?»
«Ja, also … Wie geht es nun weiter?», hat Klara Breitner gefragt.
«Ich hätte da eine Idee … Haben Sie einen Computer?»
«Natürlich …»
«Es ist nur so ein Verdacht, aber … ich möchte sichergehen … ein paar Briefe schreiben … Wenn ich darf, komme ich morgen wieder, um …»
«Natürlich. Sie können jederzeit … Aber …», und da hat sich Klara Breitner an der Nase gekratzt, während dem Lemming der Atem gestockt ist. In solchen Momenten hat ein Aber noch selten etwas Gutes bedeutet.
«Aber … Sie können auch hier bleiben, wenn Sie wollen. Es ist bald drei … Straßenbahn kriegen Sie heute keine mehr … Und Ihr eigenes Leintuch haben Sie sowieso schon mitgebracht.»
«Aber …», hat darauf der Lemming gesagt, «ich möchte Ihnen keine Umstände …»
«Machen Sie nicht. Es ist nur so, dass … Sie müssten in meinem Bett … Es ist sonst keines mehr frei. Aber … Sie haben es ja gesehen, es ist groß … Und wir sind erwachsen!»
«Wenn Sie meinen …»
«Wir schaffen das schon.» Als sie hintereinander die Treppe hinaufstiegen, konnte sich der Lemming die Frage nicht mehr verkneifen: «Was ist eigentlich … mit Ihrem Mann? Oder Freund?»
Klara Breitner hat nicht reagiert.
Und so lagen sie bald sittsam und unterwäschebewehrt in diesem riesigen Doppelbett, jeder am äußersten Rand seiner Seite, und Klara Breitner hat das Licht gelöscht.
«Gute Nacht, Herr Wallisch.»
«Schlafen Sie gut, Frau Breitner.»
Der Lemming ist so bald nicht eingeschlafen. Im Gegenteil. Wach hat er gelegen, steif und mit offenen Augen. Zwei Gedanken haben ihn aufgewühlt, wie sie widerspruchsvoller nicht hätten sein können. Nichts tun hieß der eine. Handeln der andere. Ich bin ein sensibler und ehrsamer Gentleman, sagte der eine zum anderen, sie wird das zu schätzen wissen. Weichei!, schnauzte der andere zurück, denkst du etwa, sie steht auf so einen Schlappschwanz? Wenn ich jetzt das Falsche tue, ist alles verloren … Im Gegenteil! Wenn ich jetzt nichts tue, ist alles verloren! Ich bin ein Mensch, der sich zu benehmen weiß … Nein, ich bin ein Mann, der etwas wagt! Ich will keine Abfuhr … Erbärmlicher Uterusschwimmer! Gefühlloser Macho! Warmduscher! Primitivling!
Das Nichtstun hat gewonnen, weil das Nichtstun am Ende fast immer gewinnt. Es hat einen mächtigen Verbündeten, das Nichtstun, und das ist die Zeit, in der man nichts tut. Der Lemming ist schließlich doch noch eingedöst, in vollkommener geistiger Paralyse.
Und dann hat der Körper ganz von alleine getan, was ihm der Geist zuvor verwehrt hat. In schlangengleichen Windungen hat er sich dem Zentrum der Matratze genähert, hat seine Front weiter und weiter nach vorne geschoben, Stück für Stück, Falte um Falte des Lakens gewonnen, bis er an die unsichtbare Grenze in der Mitte des Bettes gelangt ist. Hier hat er seine Wanderung unterbrochen, hat schniefend und stammelnd den Kopf hin und her geworfen, als nähme er Witterung auf, und ist weitergekrebst. Aber da ist ihm Klara Breitner auch schon entgegengekommen.
Mit schlafwandlerischer Sicherheit sind sich ihre Hände begegnet; wie selbstverständlich, wie träumend haben sie sich umschlungen, Kopf an Kopf, Stirne an Stirn, und haben den warmen Atem des anderen geatmet. So war es gut. Keiner der beiden ist aufgewacht, und erst im Halbschlaf der Morgendämmerung haben sie sich so wiedergefunden.
«Guten Morgen, Herr … Leopold …»
Er blinzelt und sieht den Umriss ihres Kopfes näher rücken und spürt ihre Lippen auf den seinen; er legt seine Hand auf ihre Wange, streicht mit den Fingern darüber und lässt sie dann in ihren schmalen Nacken wandern, durch die fallenden Haare hoch bis zum Hinterkopf. Zögernd treffen sich ihre Zungenspitzen, ziehen sich blitzschnell zurück wie zwei verschreckte Tierchen, wagen sich erneut hervor, betasten, umkreisen einander. Der Lemming richtet sich auf, ohne von Klara zu lassen, fest hält er sie und zieht sie mit sich, bis sie vor ihm auf den Decken sitzt, und sie rückt näher, schiebt sich mit angewinkelten Beinen auf seinen Schoß. Sie löst ihre Lippen von ihm, lehnt sich zurück und sieht den Lemming an, und schwarz
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