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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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nicht er …?»
    «Ich weiß nicht … nicht sicher …»
    Janni breitet schützend seine Hände über die Nickelbrille. Ein scheinbar lebloses Ding, ein bisschen Metall und Glas, in Plastikfolie eingeschlagen, und dennoch ein magischer Gegenstand.
    Janni Diodatos verdrängte Geschichte steckt in diesen Augengläsern, seine Jugend, sein Schmerz pochen darin wie ein jahrzehntelang eingeschlossener Flaschengeist. David Neumann. Er ist es, der in dieser Brille gefangen war. Jetzt aber bricht er aus, strömt mit aller Macht durch Jannis Arme zu seinem Herzen hin, erobert seine Seele zurück.
    «Janni, ist alles in Ordnung?»
    Er hebt den Kopf. Blass sieht er aus, doch seine Stimme klingt mit einem Mal heller und jünger, beinahe wie die eines Knaben.
    «Ja, Klara. Alles in Ordnung, Klara … Süße, ach süße kleine Klara … Sag, kannst du dich noch an das Lied erinnern?»
    «Allerdings. Ihr provokanten Affen …»
    Mit dem Gestus jungmädchenhafter Blasiertheit wirft Klara Breitner ihren schwarzen Schopf zurück, zieht dann gelangweilt die Augenbrauen hoch und führt mit weit abgespreiztem kleinem Finger die Tasse an die gespitzten Lippen.
    Ihr Bruder fängt zu kichern an. Auch in Jannis Bart verfängt sich ein Schmunzeln, aber nicht lange. Allzu rasch ist es wieder verflogen und macht der gewohnten ernsten Miene Platz.
    «Der Beweis», wendet er sich an den Lemming. «Ich werde es Ihnen erklären …»
    Er starrt noch einmal auf das Säckchen, auf die Brille in seinen Händen, und beginnt zu erzählen:
    «1978, am sechsundzwanzigsten Mai, ist mein Vater gestorben. In seinem – in unserem Kaffeehaus gegenüber der Schule. Sie werden das meiste schon wissen, Herr Wallisch, aber alles können Sie gar nicht wissen … Ihr Schutzbefohlener, der Grinzinger, hat uns damals das Leben zur Hölle gemacht; er und ich, wir haben einander vom ersten Tag an nicht riechen können. Er war ein jämmerlicher Westentaschendespot, ein schmieriger kleiner Philister, schleimig zu seinen Vorgesetzten und sadistisch zu seinen Schülern. Die Sieben B war seine höchst private strenge Kammer, da hat er seine Machtphantasien ausgelebt, auf unsere Kosten. Ich bin ja erst im Herbst siebenundsiebzig in die Klasse gekommen, aber die anderen … die meisten waren längst am Ende, ein Haufen feiger Duckmäuser, auf dem besten Weg, selbst kleine Grinzingers zu werden. Das Schwein hat ihnen jahrelang ihre Selbstachtung ausgetrieben, ihren Stolz, ihre Courage … Anwesende ausgenommen …»
    «Schon gut», murmelt Max, «du hast ja Recht …»
    «Das Kaffee Neumann war eine Art … Sicherheitszone. Eine Zeit lang jedenfalls. Ich glaube, der Grinzinger hat Angst um seine Autorität gehabt, als er dahintergekommen ist, dass sich seine Schüler dort treffen. Es hat ihn bedroht, hat uns seiner Kontrolle entzogen. Also ist er darangegangen, nicht nur mich, sondern auch meinen Vater und das Lokal zu ruinieren … Diese blöde Geschichte mit der Buttersäure, die Verdächtigungen gegen mich, das war alles nur ein lächerlicher Vorwand für seinen Vernichtungsfeldzug, für seine Sabotageaktionen … Verfluchte Scheiße, der arme Serner – Max hat mir von seinem Selbstmord erzählt …
    An jenem Nachmittag ist der Grinzinger im Kaffeehaus erschienen, wahrscheinlich um die jungen Gäste zu drangsalieren. Er hat das des Öfteren getan; seine Anwesenheit hat genügt, um das Lokal zu leeren. Aber damals waren keine Gäste da. Nur mein Vater, vorne bei der Schank … und ich selbst, hinten in der Küche. Meinem Vater pflegten solche Dinge nicht mehr so nahe zu gehen, er war müde, er war krank, er hat in seinem Leben Schlimmeres durchgemacht … Aber an diesem Tag … Ich weiß nicht, wie lange ihm die Drecksau zugesetzt hat. Als ich aus der Küche kam, war der Grinzinger schon wieder am Gehen. Nur seine letzten Sätze habe ich noch mitbekommen: ‹An Ihrer Stelle, Herr Neumann›, hat er gesagt, ‹wäre ich vorsichtiger mit dem Kaffee. Er schadet Ihrem Herzen. Und Ihr Herr Sohn wird Sie noch brauchen, wenn ich mit ihm fertig bin …› Mein Vater … Ich hätte ihn nicht alleine lassen dürfen … Blass war er … hat schwer geatmet … aber ich … an ihm vorüber, bei der Tür hinaus, dem Grinzinger nach … Ich habe ihn eingeholt, unten, bei der Haltestelle … Er dreht sich nach mir um, mit seinem hämischen schiefen Grinsen … und dann, als er mich ansieht … der Schock hat ihn fast umgehauen … Er ist ganz grau geworden,

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