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Der Fall des Lemming

Der Fall des Lemming

Titel: Der Fall des Lemming Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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das war die reine Todesangst … den Blick werde ich nie vergessen. Ich habe ihn gepackt … an die Mauer gedrückt … Ich muss gebrüllt haben wie ein Verrückter … Ja, und dann …»
    Janni schnaubt verächtlich durch die Nase und schüttelt den Kopf.
    «Dann hat er sich angepischt.»
    Max Breitner reißt die Augen auf. «Ehrlich?»
    «Ehrlich. Der große Herr Professor, der Mann, der lächelnd tötet, hat sich vor einem kleinen, wütenden Juden in die Hose gemacht … Mag sein, ich habe ihn deshalb gehen lassen. Er war mir nur noch widerlich in dem Moment …
    Das Ganze hat zehn Minuten gedauert, vielleicht eine Viertelstunde. Ich bin zurück ins Lokal … und habe meinen Vater gefunden … am Boden … Er war …»
    «Ich weiß», murmelt der Lemming.
    «Aber verstehen Sie … Die Augengläser. Sie waren weg. Und vorher hatte er sie noch … Ich habe sie überall gesucht, auch später, als unser Hausarzt …»
    «Doktor Kelemen. Ich habe mit ihm gesprochen.»
    «Nach vielen Wochen erst habe ich aufgehört, darüber nachzudenken. Habe beschlossen, dass die Brille in einen Spalt gerutscht sein muss, unter den Bänken oder hinter der Theke … Aber jetzt …»
    «Ist sie wieder aufgetaucht. Als blassblaues Päckchen in Grinzingers Tasche. Irgendwer muss also bei Ihrem Vater gewesen sein, während Sie dem Lehrer nachgelaufen sind …»
    Nun mischt sich auch Klara Breitner ins Gespräch. «Könnt ihr mir bitte erklären, was das für einen Sinn macht? Da betritt einer ganz nebenher ein Kaffeehaus, nur um dem sterbenden Besitzer seine Brille zu stehlen?»
    «Hans Neumann», sagt der Lemming ruhig, «ist niemals obduziert worden!»
    «Das heißt … Sie meinen … dass er gar nicht … dass es gar kein Herzinfarkt …»
    Sie schlägt sich die Hand vor den Mund und verfällt in ein kurzes, brütendes Schweigen.
    «Aber der Brief», meint sie dann kopfschüttelnd, «wenn der Brief eine Fälschung ist, weshalb sollte dann die Wahrheit darin stehen?»
    «Um sicherzugehen, dass Herr Diodato auch wirklich zu diesem Treffen am Kahlenberg kommt. Der Tod seines Vaters, Grinzinger, ein orakelhafter Beweis … Könnte es einen besseren Köder gegeben haben, um ihn von Triest nach Wien zu locken?»
    «Ja … Das mag stimmen … Aber … Dann möchte ich nur allzu gerne wissen, wozu ein … ein Mörder seinem Opfer die Brille raubt …»
    «Ich habe nicht die geringste Ahnung. Vor allem frage ich mich, wer außer Grinzinger Ihrem Vater schaden wollte», entgegnet der Lemming und sieht Janni von der Seite an. Aber der zuckt nur die Achseln.
    «Wie ging es denn damals weiter, an diesem Abend?»
    Janni steht auf und beginnt, unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen.
    «Max ist gekommen», sagt er. «Und dann Doktor Kelemen. Und was mich selbst betrifft … Kennen Sie die Geschichte meines Vaters? Hat Kelemen Ihnen davon erzählt?»
    «Ein wenig …»
    «Es gab eine Abmachung zwischen meinen Eltern, eine Art Krisenplan, für den Fall, dass Österreich eines Tages wieder, Sie wissen schon, also dass sich die Geschichte wiederholt … Mein Vater hat mir diesen Plan von klein auf eingeschärft, immer wieder, wir haben ihn hundertmal geübt, bis er mir in Fleisch und Blut übergegangen ist. In die Wohnung gehen, das Geheimfach im Kleiderschrank öffnen, den zweiten Pass und einen Umschlag mit Geld herausholen, zum Bahnhof fahren und, wenn irgend möglich, den nächsten Zug nach Zürich nehmen. Dort gab es ein Bankkonto, Startkapital für ein neues Leben in einem sicheren Land. Ein mechanischer Ablauf also, ein Programm, das im Notfall wie unter Hypnose, wie auf ein Stichwort abgespult werden musste … An diesem Abend im Mai ist dieses Stichwort für mich gefallen … Die Schule, das Kaffeehaus – vorbei. Mein Vater – tot. Es gab nichts mehr, absolut nichts mehr, was mich hielt. Ich war wie in Trance. Bin hinauf in die Wohnung, habe gepackt, ein paar Kleider, Geld für die Bahnkarte, den gefälschten Pass – Diodato … Wissen Sie eigentlich, woher dieser Name stammt?»
    «Nein, keine Ahnung …»
    «Johannes Diodato, auch Deodat genannt. Ein gebürtiger Armenier. Er hat das erste Wiener Kaffeehaus eröffnet, im Jahr 1685. Hat für seine Dienste als Kundschafter von Kaiser Leopold   I. auf volle zwanzig Jahre das Kaffeesiedermonopol übertragen bekommen.»
    «Ich dachte, der hat Kolschitzky geheißen …»
    «Ammenmärchen. Ja, ja, der Kolschitzky soll sich während der Türkenbelagerung als Spion

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