Der Fall des Lemming
was? Und wo?»
«Na, im Kaffee! Ich bin nicht erst am Abend gekommen! Ich war schon vorher einmal da! Wollte dich besuchen … und bin dem Grinzinger direkt in die Arme gelaufen. Ich hab ihn nicht gleich bemerkt – war wohl ein bisserl … in Gedanken versunken. Aber dann … Dein Vater hinter der Buddel, der Grinzinger davor, und die Luft zwischen ihnen … zum Schneiden, sag ich euch, extradick … Sie haben mich beide angeschaut, als wäre ich … ich weiß nicht … eine Art Gespenst. Dein Vater … er war ganz still, hat kein Wort gesagt. Aber dafür der Grinzinger. Er hat sein schiefes Grinsen aufgesetzt und seinen beschissenen Cäsarenblick. Hat mich angeschnurrt: ‹Wir sprechen uns morgen in der Schule, mein Freund …› Scheiße! Ich hab gemacht, dass ich wegkomme. Und oben im Park …»
«Ja was, Max? Was?»
«Da hab ich die anderen getroffen. Drei oder vier aus unserer Klasse … Scheiße, versteht ihr? Ich hab ihnen wohl erzählt, was da gerade läuft im Kaffee Neumann … Kapiert ihr jetzt? Es muss einer von ihnen … gewesen sein … Wenn ich nur wüsste … Ich glaube, der Serner war dabei … und der Ressel …»
«Der Serner ist tot und der Ressel seit Jahren gelähmt …», brummt der Lemming.
«Verdammt, Max! Verdammt!» Und wieder pulsiert das schmale blaue Äderchen auf Klara Breitners Stirn, als wär’s ein Satellitenbild vom Amazonas. «Hast du nur noch Hanf im Hirn? Jetzt denk doch nach! Wer war da noch, zum Kuckuck! Wer?»
«Der … Pribil? Ich weiß nicht … Scheiße, ich weiß es nicht mehr …»
Max kauert sich auf den Boden und vergräbt sein Gesicht in den Händen.
«Es tut mir Leid, David», wimmert er, «es tut mir so Leid … Herr Wallisch, Sie können mein Scheiß-Dope behalten … ehrlich, ich rühr das Zeug nie wieder an … glaube ich …»
Castro ist aufgewacht. Streckt sich, gähnt herzhaft und trottet noch ein wenig schlaftrunken zu Max herüber. Fährt mit leisem Schmatzen seine rosa Zunge aus und beginnt, ihm das Gesicht zu lecken.
21
DIE REINE WAHRHEIT VOM 21. 3. 2000
Kein Ende der Gewalt! Kaufmann im Herzen Wiens hingeschlachtet!
Auf einen grausigen Fund stieß gestern Kommissar Zufall in der Wiener Innenstadt. Wie verlautet, wurden in der Filiale einer angesehenen Lebensmittelkette Teile einer männlichen Leiche entdeckt. Dabei dürfte es sich um den seit mehreren Tagen abgängigen Geschäftsführer Peter P. handeln (Name der Redaktion bekannt). Erst Mitte der vorigen Woche erschütterte der brutale Mord am beliebten Pädagogen Dr. Friedrich Grinzinger (die «Reine» berichtete) die Österreicherinnen und Österreicher. Ein Zusammenhang der neuerlichen Bluttat mit dem Wienerwald- Mord ist aber vorerst auszuschließen. Einmal mehr muss sich die Polizei die Frage der «Reinen» gefallen lassen: Darf Wien nun doch Chicago werden?
«Guten Morgen, Herr Wallisch …»
«Guten Morgen, Frau Breitner …»
Vor dem Fenster ein schüchternes Tschilpen, Blaumeisengruß an den ersten Sonnenstrahl, an den beginnenden Tag. Unter der Decke zwei Hände in sanfter Verschränkung, zu warm, zu vertraut, um sich voneinander zu lösen.
Es ist etwas geschehen in der Nacht.
Nein, nicht das Gierige ist geschehen, nicht das Hungrige, Nasse und Nackte, nicht das Keuchende, Wilde und Wache. Etwas anderes hat sich begeben, etwas Leises und Zartes, und es ist im Schlaf passiert.
Spät war es gestern Abend. Die vier saßen noch lange um den Tisch, haben Rotwein getrunken und sich die Köpfe zerbrochen. Dann hat Janni Geschichten erzählt, merkwürdige Erinnerungen aus seinem entwurzelten Leben, bis am Ende Max Breitners müdes Haupt vornübergekippt und auf die Tischplatte gesunken ist. Fast halb drei muss es gewesen sein, als Janni aufstand, um den angeschlagenen Max in die Höhe zu wuchten, unterzuhaken und in sein Zimmer hinter der Küche zu bringen. Auch Janni selbst schlief im Erdgeschoss, auf einem Klappbett in Klara Breitners Ordination auf der anderen Seite des Flurs.
Der Lemming und Klara sind übrig geblieben. Haben so lange stumm auf ihre Gläser gestarrt, bis ihr Schweigen eine verlegene Note bekam. Schlagartig ist dem Lemming bewusst geworden, dass er nun mit ihr alleine war, mit dieser seiner geheimen Göttin des Lächelns und des Zorns. Wieder hat ihn diese Erkenntnis verwirrt und blockiert, einmal mehr ist sie Hand in Hand gegangen mit dem inneren Zwang, das Rechte zu tun und zu sagen, zur richtigen Zeit, im richtigen Tonfall
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