Der Fall (German Edition)
Natur mich doch großzügig bedacht. Ich tat mir nicht wenig darauf zugute und verdankte diesem Umstand gar manche Befriedigung, ohne heute mehr sagen zu können, worin sie bestand, ob im Vergnügen oder im Prestige. Ich weiß schon, jetzt denken Sie wieder, ich renommiere. Ich will das auch gar nicht in Abrede stellen, und es ist mir umso unangenehmer, als ich mich diesmal mit Sachen brüste, die wahr sind.
Wie dem auch sei, meine Sinnlichkeit, um nur von ihr zu sprechen, war so mächtig, dass ich sogar um eines Abenteuers von zehn Minuten willen Vater und Mutter verleugnet hätte, auf die Gefahr hin, es nachträglich bitter zu bereuen. Aber was sage ich! Vor allem um eines Abenteuers von zehn Minuten willen, und erst recht, wenn ich die Gewissheit hatte, dass es dabei sein Bewenden haben werde. Natürlich hatte ich Prinzipien, so zum Beispiel, dass die Frau eines Freundes tabu sei. Indessen hörte ich einfach in aller Aufrichtigkeit ein paar Tage vorher auf, für den jeweiligen Ehemann Freundschaft zu empfinden. Vielleicht sollte ich das nicht Sinnlichkeit nennen? An sich ist die Sinnlichkeit nichts Abstoßendes. Üben wir Nachsicht und sprechen wir von einem Gebrechen, von einer Art angeborener Unfähigkeit, in der Liebe etwas anderes zu erblicken als den Liebesakt. Dieses Gebrechen war letzten Endes ganz angenehm. Gepaart mit meiner Fähigkeit des Vergessens, kam es meiner Freiheit zustatten. Da es mir auch den Anschein einer gewissen Distanziertheit und unzähmbaren Unabhängigkeit verlieh, bot es mir gleichzeitig Gelegenheit zu neuen Erfolgen. Ich war dermaßen unromantisch, dass ich schließlich den romantischen Gefühlen kräftige Nahrung bot. Unsere schönen Freundinnen haben nämlich dieses eine mit Napoleon gemeinsam, dass sie stets glauben, dort Erfolg zu haben, wo alle anderen gescheitert sind.
Diese Beziehungen befriedigen übrigens nicht nur meine Sinnlichkeit, sondern zugleich auch meine Freude am Spiel! Ich liebte die Frauen als Partnerinnen in einem bestimmten Spiel, das irgendwie nach Unschuld schmeckte. Sehen Sie, ich vertrage es nicht, mich zu langweilen, und schätze am Leben nur die unterhaltsamen Seiten. Jede noch so brillante Gesellschaft geht mir bald auf die Nerven, während ich mich mit keiner Frau, die mir gefiel, je gelangweilt habe. Es fällt mir schwer, es einzugestehen, aber ich hätte ohne weiteres zehn Gespräche mit Einstein für ein erstes Rendezvous mit einer hübschen Statistin hingegeben. Beim zehnten Stelldichein sehnte ich mich dann allerdings nach Einstein oder doch nach einem kräftigen Buch. Kurzum, die weltbewegenden Probleme interessierten mich nur, wenn ich nicht gerade durch ein Techtelmechtel in Anspruch genommen war. Wie oft ist es mir nicht widerfahren, dass ich mit Freunden auf einem Gehsteig beisammenstand und mitten in der hitzigsten Diskussion plötzlich den Faden des Gesprächs verlor, weil im selben Augenblick ein knuspriges Ding die Straße überquerte!
Ich hielt mich an die Spielregeln. Ich wusste, dass es den Frauen gefiel, wenn man nicht geradewegs aufs Ziel zusteuerte. An den Anfang gehörte Konversation, Zärtlichkeit, wie sie zu sagen pflegen. Um Reden war ich als Anwalt nicht verlegen, und auch um Blicke nicht, da ich als Soldat ein wenig Schauspielerei erlernt hatte. Ich wechselte oft die Rolle; aber das Stück blieb sich immer gleich. Die Szene der unerklärlichen Anziehung zum Beispiel, das «gewisse Etwas», das «es gibt kein Warum und Weshalb», «ich begehrte nicht, mich zu verlieben», «dabei war ich der Liebe wahrhaftig überdrüssig …» und so weiter, war eine Nummer, die immer zog, obwohl sie zu den Ladenhütern des Repertoires gehört. Dann gab es auch die Nummer des geheimnisvollen Glücks, das einem keine andere Frau je schenkte, dem vielleicht kein Morgen beschieden war, sogar sicher nicht (man kann sich nie genug vorsehen!), das aber gerade deswegen unersetzlich war. Vor allem hatte ich eine kleine Tirade ausgearbeitet, die immer gute Aufnahme fand und der gewiss auch Sie Beifall zollen werden. Diese Rede bestand im Wesentlichen in der schmerzlich resignierten Behauptung, dass ich ein nichtiger Mensch sei, dass es sich nicht verlohne, mich lieb zu haben, dass mein Leben fernab am trauten Glück des Alltags vorbeiführte, jenem Glück, das ich vielleicht allen Gütern vorgezogen hätte, aber nun sei es eben zu spät. Über die Gründe dieser unwiderruflichen Verspätung schwieg ich mich wohlweislich aus, da es bekanntlich klüger
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