Der Fall Lerouge
überall mit seinem erstaunlichen Appetit. Gern zog er auch Vergleiche zu Zelebritäten der Vergangenheit, die sich im Vertilgen von Nahrungsmitteln besonders hervorgetan hatten, so zu Karl IV., der einen ganzen Ochsen verspeisen konnte, oder zu Ludwig XIV., der so viel aà wie sechs ausgewachsene Männer. Er behauptete auch, an der Fähigkeit, Mengen zu vertilgen, könne man die Güte eines Mannes messen. Das sei so wie mit den Lampen, die desto heller leuchteten, je mehr Ãl sie verbrauchten.
Während der ersten halben Stunde hatte der Graf alle seine Sinne auf das Essen versammelt, so daà kein Gespräch aufkam. Da er ganz auf die eigenen Gaumengenüsse konzentriert war, bemerkte er auch nicht, daà Albert die Speisen kaum anrührte. Als dann der Nachtisch abserviert war, kehrte seine üble Laune zurück, diesmal entzündet an einem Brief, den er vor dem Mahl erhalten und kurz überflogen hatte. In diesem hatte ihn ein Freund, der Graf de Boisfresnay, um Hilfe gebeten, und nun erging sich Commarin in wüsten Beschimpfungen.
»Die haben kein Vertrauen zu sich selbst, das ist alles. Immer sollen andere ihnen die Kastanien aus dem Feuer holen. Dabei müssen sie ja die Achtung vor sich selbst verlieren und im Land den Eindruck erwecken, der Adel sei im Verfall.«
Beim Kaffee spann er das Thema weiter und kam schlieÃlich zu der Feststellung: »Das einzige, was die Aristokratie vorm Untergang bewahren kann, ist ein strenges Gesetz, das die Alleinerbschaft des Erstgeborenen regelt.«
Albert, der aus Erfahrung wuÃte, wie starr seines Vaters Meinung in diesem Punkt war, schwieg.
»Oder kann man den nachgeborenen Kindern nicht zumuten, um ihrer Familie und ihres Erhalts willen Opfer auf sich zu nehmen?« fuhr der Alte streitlustig fort. »Sie müssen einfach auf ihr Erbteil verzichten und sich mit einer kleinen Rente zufriedengeben. Dann wird unser Stand erstarken, und er kann wieder ein gewichtiges Wort in den Staatsangelegenheiten mitsprechen.«
»Unsere Zeit denkt anders darüber«, wagte Albert einzuwerfen.
»Glaubst du, das weià ich nicht? Da doch in meinem eigenen Haus meine Anschauung nicht gilt. Habe ich dich nicht gebeten, dieses unsinnige Projekt der Heirat mit der Tochter dieser alten Schrulle aufzugeben. Und was tust du?«
»Aber Vater!«
»Du willst deine eigenen Wege gehen und wirst dabei unsere Familie ruinieren. Noch hast du die Aussicht, einer der gröÃten Grundbesitzer des Landes zu werden, nach meinem Tod. Aber laà nur Kinder kommen! In alle Winde wird dein Eigentum geblasen, und du selbst wirst am Bettelstab enden.«
»Ich fürchte, Vater, Sie übertreiben.«
»Ich übertreibe? GroÃe, mächtige Familien sind nicht durch Zuneigung zweier Menschen entstanden. Ein echter Adliger denkt zuerst an sein Haus, an sein Gedeihen. Deine Mademoiselle dâArlanges ist hübsch, ja. Aber besitzt sie auch nur einen Sou? Heirate eine reiche Erbin, dann handelst du richtig.«
»Und wenn ich sie nicht liebe?«
»Hör mit dieser alten Leier auf. Die Frau, die ich für dich ausgesucht habe, bringt dir vier Millionen in die Ehe. Und da redest du von Liebe!«
Albert hörte nun kaum noch hin und antwortete nur spärlich. Das verärgerte den Grafen mehr, als hätte der Sohn seinen Plänen heftig widersprochen. Als Albert wieder einmal eine einsilbige Antwort gegeben hatte, geriet der Graf in Wut und schrie: »Du redest wie ein hergelaufener Bursche aus dem Volk, nicht wie ein Sproà der Commarins!«
»Vielleicht haben Sie recht, Monsieur, und ich bin ein Bursche aus dem Volk, und vielleicht wissen Sie darüber genau Bescheid«, antwortete Albert mit kaum bewahrter Geduld.
Auf diese Worte reagierte der Graf zunächst nicht. Er war geschockt, sein Temperament verlieà ihn, und zögernd sagte er: »Ich verstehe nicht.«
Albert aber antwortete ruhig und besonnen: »Ich muà mit Ihnen etwas Wichtiges besprechen. Es gibt Dinge, die die Ehre unseres Hauses berühren, meine Ehre übrigens nicht minder. Eigentlich hatte ich Sie um die Unterhaltung erst morgen bitten, Sie nicht schon am Tag Ihrer Rückkehr belästigen wollen. Doch da nun das Thema einmal angeschnitten ist, müssen wir uns wohl jetzt damit auseinandersetzen.«
Der Graf ahnte, was geschehen war, und sah der Unterredung mit Unbehagen entgegen.
»Glauben Sie nicht, daà ich Ihnen
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