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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
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jemals einen Vorwurf machen werde«, sagte Albert. »Sie haben so viel für mich getan ...«
    Â»Keine Komplimente.« Mit einer Handbewegung unterbrach ihn der Graf.
    Â»Ich habe, Monsieur«, sagte Albert nach einigem Zögern, »Ihren Briefwechsel mit Madame Gerdy gelesen ...«
    Commarin sprang so heftig auf, daß sein Stuhl umfiel. »Davon will ich nichts hören!« brüllte er in höchster Wut. »Kein Wort mehr!«
    Doch dann kam ihm zum Bewußtsein, daß er sich zu sehr hatte gehenlassen, und eher verlegen, stellte er den Stuhl wieder auf die Beine.
    Â»Ich ahnte schon, als du mich vom Bahnhof abholtest, daß dir etwas auf die Seele drückte«, sagte der alte Graf bleich und mit mühsam beherrschter Stimme. »Die Ehre unseres Hauses sei im Spiel, hast du gesagt. So ist es. Unser Gespräch verträgt keinen Aufschub. Wir werden in mein Zimmer gehen.«
    Zuvor noch gab er einem Diener Anweisung, niemanden vorzulassen. »Wir möchten unter keinen Umstünden gestört werden«, sagte er.
    Seit zwanzig Jahren befürchtete der Graf, daß seine Affäre mit Madame Gerdy ans Licht kommen werde, und so war er von der Eröffnung Alberts nicht überrascht. Er war erfahren genug, um zu wissen, daß kein Geheimnis nicht durch einen Zufall offenbar würde. Und das Geheimnis, das er vor Albert hütete, war vier Leuten bekannt. Drei von ihnen lebten noch, und zudem war er, der Graf, so unvorsichtig gewesen, alles dem Papier anzuvertrauen. Er fragte sich heute noch, wie das ihm hatte unterlaufen können, dem an Vorsicht gewöhnten Diplomaten. Und warum hatte er diese Korrespondenz nicht schon längst wieder an sich gebracht und vernichtet?
    Als er Valerie noch liebte und an die Ewigkeit dieser Liebe glaubte, hatte er nie daran gedacht, die Briefe von ihr zurückzufordern. Das wäre zudem einer Kränkung Valeries gleichgekommen. Und warum hätte er auch an ihrer Verschwiegenheit zweifeln sollen? Valerie mußte doch ein starkes Interesse daran haben, die Spur der damaligen Ereignisse zu verwischen.
    Später dann, als Commarin die Liaison aufgab, weil er glaubte, er werde hintergangen, hatte er keinen Weg mehr gesehen, die Briefe an sich zu bringen, zumal er sich heftig dagegen gewehrt hatte, mit der ehemaligen Geliebten noch einmal zusammenzutreffen. War er sich doch nicht gewiß, womöglich ihren Unschuldsbeteuerungen standhalten zu können? Sein Stolz war zu sehr verletzt, als daß der Gedanke an Verzeihung in seinem Kopf überhaupt hätte Platz finden können. Eine dritte Person wollte er aber auf keinen Fall in die Angelegenheit hineinziehen. So war nichts geschehen, Monate und Jahre vergingen, und endlich mußte er sich eingestehen, daß es zu allem schon zu spät sei. Das Zögern des Grafen in der Angelegenheit mit den Briefen hatte aber natürlich seinen tieferen Grund. Er wollte die Erinnerung an etwas, das nicht hätte geschehen dürfen, verdrängen. Vielleicht, so versuchte er sich zu beruhigen, hat sie die Korrespondenz vernichtet, und wenn ich sie jetzt von ihr zurückfordere, erwecke ich nur ihr Mißtrauen und womöglich den Gedanken, sich erst recht an die Öffentlichkeit zu wenden. Doch bei allem hatte er nie vergessen, daß Gefahr über ihm schwebte wie das Schwert über dem Haupt des Damokles.
    Jetzt also war es soweit, der gefürchtete Augenblick war gekommen, und sooft er sich auch Gedanken gemacht hatte, wie er in diesem Augenblick seinem Sohn begegnen könnte, nun, in der Entscheidung, blieb er ratlos und sah verwirrt auf Albert, der in respektvoller Haltung vor ihm stand.
    Um Zeit zu gewinnen, ließ sich der Graf gemächlich in einem Lehnsessel nieder, über dem der weitverzweigte Stammbaum derer von Commarin hing. Um nichts in der Welt durfte er sich die Angst, die ihn gepackt hatte, anmerken lassen, und es gelang ihm in der Tat, noch hochmütiger dreinzublicken als sonst. Auch seine Stimme klang fest und selbstsicher, als er sagte: »Ich brauche wohl nicht zu erklären, wie einem Vater zumute ist, der vor seinem Sohn erröten müßte. Ich hoffe, du wirst Verständnis für meine Lage haben. Versuchen wir, ruhig und sachlich zu sein. Zunächst aber möchte ich wissen, wie du von allem erfahren hast.«
    Tagelang hatte Albert auf diesen Augenblick gewartet, und der fand ihn ruhig und gefaßt. Alle Ungeduld war verflogen; Alberts Stimme war

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