Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
Vom Netzwerk:
auf meinen Vorteil bedacht. Dazu ist er noch bescheiden, das hat er mir voraus. Er läßt sich von seinem Glück nicht blenden; ich glaube, er wird meinem Namen keine Schande machen. Und doch: Etwas an ihm gefällt mir nicht. Vielleicht ist es nur, weil mir der arme Albert nicht aus dem Kopf geht, der unglückliche Junge, der sein Gewissen mit einem solchen Verbrechen belastet hat. Vielleicht ist mir Noël zu klug, zu perfekt in allem ... Die Großmut in Person. Er verzeiht mir und Valerie, er will Albert retten ... Mag sein, daß die jungen Leute heutzutage so sind, anders als wir damals, weniger eigensüchtig. Albert war ja auch fast ein Heiliger. Und doch hat er die Alte umgebracht ... Eigentlich hätte ich doch zu Valerie fahren sollen. Und er ging zum Fenster. Vielleicht konnte er Noël noch aufhalten. Aber über seinem Brüten war die Zeit verronnen.
    Noël war nicht mehr zu sehen. Er befand sich schon auf dem Weg in die Rue St-Lazare. Vor Tabarets Haus entlohnte er den Kutscher und stürmte die Treppen empor.
    Â»Ist jemand für mich dagewesen«, fragte er das Dienstmädchen noch völlig außer Atem, und er war erleichtert, als sie seine Frage verneinte.
    Â»Hat der Arzt nach mir verlangt?« fragte er, nun schon ruhiger geworden.
    Â»Seit heute früh kommt er jede Stunde. Auch jetzt ist er bei Madame.«
    Â»Das trifft sich gut. Dann kann ich gleich mit ihm sprechen. Sollte jemand kommen, führen Sie ihn in mein Arbeitszimmer, und benachrichtigen Sie mich.«
    Als er das Krankenzimmer betrat, lag Madame Gerdy mit weitgeöffneten, starren Augen und verkrampften Gesichtszügen und starrte gegen die Decke. Über ihrem Kopf war ein Gefäß angebracht, aus dem Wasser in regelmäßigen Abständen auf ihre Stirn tropfte, um ihr in ihrer Fieberglut Linderung zu verschaffen. Der Tisch neben dem Bett war mit Medizinflaschen und Pillenschachteln bedeckt.
    Eine junge Vinzentinerin saß neben dem Kamin und wartete darauf, daß das Wasser in einem offenen Kessel kochen würde.
    Dr. Hervé saß neben dem Bett. Als Noël ins Zimmer trat, stand er auf und sagte: »Endlich!«
    Â»Ich bin aufgehalten worden«, erwiderte Noël. »Im Palais der Commarins. Ich habe wie auf Kohlen gesessen, immer in der Angst, zu spät zu ihr zu kommen.« Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern, als er fragte: »Geht es ihr besser?«
    Dr. Hervé schüttelte den Kopf. »Es ist viel schlechter geworden seit heute morgen. Ich befürchte das Schlimmste.«
    In diesem Augenblick bewegte sich Madame Gerdy und stöhnte leise. Der Arzt ging zu ihr, fühlte ihr den Puls und sah ihr lange in die trüben und starren Augen. »Nehmen Sie ihre Hand«, sagte Dr. Hervé, »und sprechen Sie sie an. Vielleicht reagiert sie auf Ihre Stimme.«
    Noël trat ans Bett, beugte sich über die Kranke und sagte leise: »Ich bin’s, Noël. Erkennst du mich? Sprich doch, oder gib mir ein Zeichen.«
    Aber kein Anzeichen, daß sie Noël verstanden hatte, zeigte sich auf ihrem starren Gesicht.
    Noël seufzte tief. »Hat sie große Schmerzen?«
    Â»Sie spürt im Augenblick nichts.«
    Â»Es ist alles bereit, Herr Doktor«, sagte die junge Nonne vom Kamin her.
    Â»Rufen Sie das Mädchen. Wir müssen ihr ein Zugpflaster auflegen«, ordnete der Arzt an.
    Die beiden Frauen richteten Madame Gerdy auf. Ihr Körper hing in den Armen der Pflegerinnen wie ein Leichnam, der zur letzten Ruhe gebettet werden soll. Ihr Leiden schien schon lange zu währen und hatte sie bis aufs Skelett abmagern lassen. Selbst die Vinzentinerin, die schon vielen Kranken und Sterbenden beigestanden hatte, konnte ihre Erschütterung nicht verbergen.
    Noël beobachtete die Szene steif und mit undurchdringlichem Gesicht vom Fenster aus, wohin er sich zurückgezogen hatte. Als er den Arzt sagen hörte: »Wir müssen warten, oh sie auf das Pflaster reagiert; wenn sie es nicht fühlt, müssen wir einen Schröpfkopf ansetzen«, erwachte er aus seiner Starre.
    Â»Und wenn auch das nichts nützt?« fragte er.
    Daraufhin hob der Arzt hilflos die Schultern.
    Â»Heißt das, daß sie heute nacht noch sterben könnte?«
    Â»Es deutet alles darauf hin. Aber ich gebe nicht auf. Ich kenne Fälle, in denen der Kranke trotz allem noch genesen ist.«
    Â»Der Gedanke, sie könnte sterben, ohne mich wiederzuerkennen, ohne ein

Weitere Kostenlose Bücher