Der Fall Lerouge
einziges Wort zu mir zu sprechen, ist mir unerträglich.«
»Wie diese Krankheit verläuft, kann niemand vorhersagen. Jetzt liegt sie im Koma, alle Funktionen ihres Hirns scheinen ausgeschaltet zu sein. Aber das kann sich ändern. Das hängt davon ab, welcher Teil des Gehirns durch die Entzündung betroffen ist. Vielleicht windet sie sich bald schon in Krämpfen, in denen sie dann wieder klar denken kann.«
»Wird sie dann auch die Sprache wiedererlangen?«
»Das ist anzunehmen.«
»Und bleibt sie auch bei Verstand?«
»Vielleicht. Niemand kann das vorhersagen«, antwortete der Arzt. Dabei sah er Noël mit einigem MiÃtrauen an. »Warum wollen Sie das eigentlich alles wissen?« fragte er.
»Weil ein einziges Wort von ihr für mich so wichtig wäre.«
»Wie gesagt, ich kann nichts versprechen. Bleiben Sie in ihrer Nähe für den Fall, daà ihr Denkvermögen noch einmal,wenn auch nur für Sekunden, wach wird. Ich muà gehen. Auf mich warten noch andere Patienten.«
»Werden Sie heute noch einmal kommen?« fragte Noël, als er den Arzt zur Wohnungstür begleitete.
»Gegen neun. Im Augenblick kann ich ohnehin nichts für sie tun. AuÃerdem: Ich habe eine gute Pflegerin ausgesucht. â Was machen Sie nur für ein Gesicht, Noël?«
»Mein lieber Doktor ...«
»Sie können doch nichts dagegen einwenden, daà ich eine Vinzentinerin zur Pflege bestellt habe. Der Orden ist bekannt für seine Krankenschwestern. AuÃerdem kenne ich die Nonne persönlich und schätze sie sehr. Diese Ordensfrauen haben möglicherweise ihre Eigenheiten. Aber im Interesse der Kranken sollte man sich mit ihnen abfinden. Nun adieu, ich muà mich beeilen.«
Noël ging mit nachdenklicher Miene in Madame Gerdys Zimmer zurück. An der Tür erwartete ihn die Schwester.
»Ihr Mädchen schickt mich. Wir brauchen Geld für die Medizin. Ich muÃte heute schon einmal dem Apotheker etwas schuldig bleiben.«
»Zu dumm, daà ich nicht daran gedacht habe. Aber das Ganze verwirrt mich sehr.« Mit diesen Worten legte er einen Geldschein auf den Kaminsims.
»Ich werde alles notieren, was ich ausgebe. Das ist bei uns so Brauch.« Nach einigem Zögern fuhr sie fort: »Ob es wohl nicht besser wäre, der Kranken den Trost der Kirche zukommen zu lassen? Soll ich einen Priester holen?«
»In ihrem Zustand, Schwester, würde das wenig nützen. Sie nimmt doch nichts mehr von dem wahr, was um sie herum vorgeht.«
»Das würde ich nicht ohne weiteres sagen. Sie reagiert nicht auf uns. Aber wer sagt Ihnen, daà sie den Geistlichen nicht hören und ihm nicht antworten würde? Oft hat das Sakrament den Sterbenden nicht nur getröstet, sondern ihn auch geheilt.«
Aber Noël hörte nicht auf das, was die Nonne sagte. Seine Gedanken schweiften in anderen Gefilden.
Ehe die Vinzentinerin ihre Rede voller guter Ratschläge noch fortsetzen konnte, meldete das Dienstmädchen, ein Mann, der seinen Namen nicht nennen wolle, warte in Monsieur Gerdys Arbeitszimmer.
»Ich bin gleich da«, sagte er.
»Was soll ich tun, Monsieur?« fragte die Vinzentinerin.
»Halten Sieâs, wie Sie wollen, Schwester.« Und Noël verlieà den Raum.
In seinem Arbeitszimmer wartete Clergeot auf ihn. Clergeot war im ganzen Quartier bekannt. Denn er besaà mehr Geld, als er ausgeben konnte. So lieh er es denn aus, und für diese Freundlichkeit kassierte er Zinsen zwischen zwanzig und dreiÃig Prozent. Dabei hatte er den Vorzug, daà er seinen Schuldner nie der Polizei überantwortete, wenn er säumig war. Vielmehr verfolgte er ihn selber unverdrossen, und wenn es zehn Jahre oder gar länger dauern sollte, bis er zu seinem Geld kam. Er hatte eine Klientel, die er bevorzugte: Schauspielerinnen, Maler und Ehemänner, die sich eine Freundin hielten, auch junge Herren, die eine Praxis als Anwalt oder Arzt eröffnen wollten und denen das Geld dazu fehlte.
Im Laufe seiner finsteren Karriere hatte er sich zu einem Menschenkenner von Graden entwickelt, der sich fast nie in einem Kunden täuschte.
Die Verbindung zwischen diesem Ehrenmann und ihrem Galan hatte Juliette hergestellt und dafür gesorgt, daà sie von Noël eifrig genutzt wurde.
Noël kannte Clergeots Schwäche für Höflichkeit, und so erkundigte er sich erst einmal nach seinem Befinden, nachdem er ihm einen
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