Der Fall Lerouge
noch für einen Sinn?« fragte der Alte erstaunt.
»Sie wollen ihn im Stich lassen?« Noël legte so viel Wärme in seine Stimme, daà der Graf ihn voller Unbehagen über die eigene Herzlosigkeit anblickte. »Ausgerechnet jetzt, da er keinen Freund mehr hat? Monsieur, denken Sie doch daran: Auch er ist Ihr Sohn! Und er ist mein Bruder, und er hat ein Recht darauf, von der Familie, deren Namen er dreiÃig Jahre getragen hat, Hilfe zu erwarten, mag er nun schuldig sein oder nicht. Wir müssen ihm helfen.«
So edel hätte auch Albert gedacht, überlegte der Graf. »Und was willst du unternehmen?« fragte er.
»Ich will ihn retten, wenn er unschuldig ist. Und ich fühle es: Er ist unschuldig. Wozu bin ich Anwalt, wenn ich nicht seine Verteidigung übernehme? Ich bin kein schlechter Advokat, das sagt man mir jedenfalls nach, und ich werde all meine Eignung in diesem Fall beweisen. Die Beschuldigungen gegen ihn werde ich widerlegen und die Wahrheit ans Licht bringen. Ich werde Mittel und Wege suchen, um die Richter von seiner Unschuld zu überzeugen. In dem letzten ProzeÃ, den ich führe, werde ich ihn retten.«
»Und was ist, wenn er den Mord eingesteht?« fragte der Graf.
»Es gibt Möglichkeiten, der Vollstreckung eines Urteilsspruchs zu entgehen«, sagte Noël leidenschaftlich. »Sollte ich sie ungenutzt lassen, da das Leben meines unglücklichen Bruders auf dem Spiel steht?«
Rheteau de Commarin drückte Noël bewegt die Hand. Dieser fühlte, daà es ihm gelungen war, diesen hochmütigen Aristokraten zu rühren. Und er lächelte angesichts seines Sieges.
»Um noch einmal auf unser Verhältnis zurückzukommen ...« Der Graf sprach wieder ganz sachlich. »Deine Vorstellungen sind nicht übel, und ich werde sie akzeptieren. Dieses eine Mal aber nur. In Zukunft gedenke ich, es so zu halten wie bisher: Ich bestimme, was in diesem Haus zu geschehen hat. Ich bin noch nie von einem einmal gefaÃten Entschluà abgegangen. Merk dir das. Im übrigen sollte uns das alles nicht davon abhalten, heute abend gemeinsam zu speisen. Dann werde ich dir die Räume zeigen, die du später beziehen wirst.«
Noch einmal wagte es Noël, dem Alten zu widersprechen.
»Ihr Wunsch war mir Befehl, als Sie mich aufforderten, Sie hierher zu begleiten. Damit aber habe ich meine Pflicht erfüllt. Jetzt ruft mich eine andere, eine heilige Pflicht an das Sterbebett von Madame Gerdy, der Frau, die mich an Sohnes Statt aufgezogen hat und der ich Dank schulde.«
»Ach, Valerie!« Der Graf schlug die Hände vors Gesicht und stützte sich schwer auf eine Armlehne seines Stuhls. Als sei eine Schleuse geöffnet worden, flutete die Vergangenheit über ihn, und er klagte: »Sie hat mir groÃen Schmerz zugefügt, sie hat mein Leben ins Unglück gestürzt. Aber darf ich deshalb unversöhnlich sein? Der Schmerz über Alberts Tat hat sie auf das Sterbebett geworfen. Und alles ist nur meine Schuld. Vielleicht kann ein Wort von mir sie in ihrer letzten Stunde trösten.« Einige Sekunden verharrte er noch in dieser Stellung, ehe er sich gesammelt hatte, und sagte: »Ich begleite dich.«
Diese Worte lieÃen Noël zusammenfahren.
»Mein Vater«, rief er, »ich weià nicht, ob Sie den Anblick der Sterbenden ertragen könnten. Vielleicht ist Madame Gerdy jetzt schon tot, nachdem ihr Verstand schon in die ewige Nacht gesunken ist. Selbst wenn sie noch lebte, sie würde Sie nicht erkennen und Ihre Worte nicht verstehen.«
»Ich sehe ein, daà es zu spät ist«, sagte der Graf und seufzte tief. »Geh allein zu ihr, mein Sohn! Ich erwarte dich zum Abend. Ich pflege um halb sieben zu speisen, und es wäre mir eine Freude, dich an meinem Tisch zu sehen.« Er läutete, und als sein Kammerdiener erschien, befahl er: »Denis, legen Sie zum Souper ein zweites Gedeck auf. Dieser Herr ist von heute an hier zu Hause. Teilen Sie das allen Bediensteten mit.«
Als Noël gegangen war, atmete der Graf erleichtert auf. Er war froh, allein zu sein; denn seit dem Morgen war so vieles auf ihn eingestürzt, was sein Verstand noch nicht verarbeitet hatte. Minutenlang saà er in seinem Stuhl, ehe er einen vernünftigen Gedanken fassen konnte.
Das war also mein ehelicher Sohn, überlegte er. Genauso sah ich mit dreiÃig aus, war genauso ein netter Kerl wie dieser Noël, war genauso klug und
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