Der Fall Lerouge
der unerwarteten Einladung befallen hatte, wich während der Fahrt, und er gewann seine gewohnte Kaltblütigkeit zurück. Dazu trug auch bei, daà der Graf bis zur Ankunft vorm Palais kein weiteres Wort an ihn richtete.
Ganz Paris sprach bereits von den ungewöhnlichen Ereignissen, die im Haus des Grafen Commarin vor sich gegangen waren und auÃerordentliches Aufsehen erregt hatten. In immer neuen Abwandlungen wurden sie verbreitet. Sie waren zum Gegenstand schillernder Gerüchte geworden und lösten â je nach der Einstellung des Betreffenden â die verschiedensten Haltungen aus, von aufrichtiger Anteilnahme und ehrlichstem Mitgefühl bis zu Schadenfreude und sensationslüsterner Neugier. Auch die Dienerschaft des Grafen war von allem durcheinandergewirbelt worden. Unruhe hatte sie ergriffen, Getuschel war im ganzen Haus zu hören, Vermutungen wurden laut und verstummten wieder, machten anderen Platz. Rheteau de Commarin schien das alles nicht anzufechten.
Gestützt auf Noëls Arm, stieg er aus der Kutsche und ging sofort in sein Arbeitszimmer. Da saà nun der Alte im Sessel, von dem aus er am Abend zuvor das Gespräch mit seinem Sohn Albert geführt hatte. Nichts mehr an ihm erinnerte an den gebrochenen Mann im Büro des Untersuchungsrichters. Sein Hochmut war zurückgekehrt, und er trug ihn offen zur Schau. Die Stunde bei Daburon erschien ihm jetzt wie eine Ewigkeit voller Demütigungen. Er schämte sich, daà er sich so hatte gehenlassen, klagte sich einer unverzeihlichen Schwäche an.
Wie Albert am Abend zuvor vor ihm gestanden hatte, stand nun Noël, aufrecht und respektvoll zwar, aber distanziert und gar nicht mehr so bescheiden vor ihm. Die Blicke, mit denen sie einander prüften, lieÃen nichts von Freundlichkeit füreinander erkennen. Nach einigen Sekunden nahm der Graf das Wort.
»Von jetzt an«, sagte er sachlich, »bist du mein Sohn, und dies Haus ist auch dein Haus. Als Graf de Commarin stehen dir alle Rechte zu, die dir vorenthalten worden sind. Behalte deinen Dank für dich, denn du hast mir nichts zu danken. Hätte es an meiner Entscheidung gelegen, wärst du nie in dieses Haus gekommen, und Albert hätte den Titel und die Stellung behalten, in die ich ihn gebracht habe. Das nur, damit keine MiÃverständnisse zwischen uns aufkommen.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Monsieur«, antwortete Noël genauso sachlich. »Und ich verurteile Sie nicht, wenn ich mir auch nicht denken kann, daà ich so hätte handeln können wie Sie damals, als Sie mich der Rechte meiner Geburt beraubten. Aber wenn mir das Unglück widerfahren wäre, ich hätte später nicht anders gehandelt als Sie. Sie konnten es sich in Ihrer Stellung nicht erlauben, Ihr Vergehen zuzugeben. Ihr Name und der Name Ihres Hauses muÃten geschützt werden, um jeden Preis, auch um den, das Unrecht zu dulden und das Geheimnis zu bewahren.«
Mit diesen Worten hatte Noël groÃen Eindruck auf den Grafen gemacht, der sich jedoch seine Genugtuung nicht anmerken lassen wollte und noch kühler als zuvor sagte: »Ein Recht auf Liebe von deiner Seite habe ich nicht. Ich bitte auch nicht darum. Alles, was ich verlange, ist Ehrerbietung. Es steht den Söhnen nicht zu, ihre Väter zu kritisieren. Du hast das anscheinend begriffen. Nun zur Sache: Albert hat einen eigenen Haushalt geführt, obgleich er mit mir unter einem Dach lebte, hatte seine Diener, seine Pferde und seine Wagen und erhielt von mir viertausend Francs im Monat. Ich gedenke mit dir nicht anders zu verfahren, möchte dir nur einen fairen Start ermöglichen, indem ich die Zuwendungen auf sechstausend Francs erhöhe. Ich bin sicher, du verwendest die Summe in angemessener Weise und vermeidest alles, was Anstoà erwecken könnte. Selbstkontrolle ist von nun an für dich das wichtigste. Achte auf dein ÃuÃeres, wäge jedes Wort ab, das du sagst, und unterzieh jede Handlung vorher genauer Prüfung. Aller Augen sind auf dich gerichtet, man wartet geradezu darauf, daà du Fehler machst. Wie steht es um deine Fechtkunst?«
»Gut.
»Und mit dem Reiten?«
»Schlecht. Ich hoffe, in einem halben Jahr ein guter Reiter zu sein, wenn ich mir bis dahin nicht das Genick gebrochen habe.«
»Es ist schon besser, du wirst ein guter Reiter. Noch etwas: Natürlich wirst du nicht Alberts Räume beziehen. Die halte ich verschlossen,
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