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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
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Erinnerungen, die Sprache verloren zu haben. Doch dann fuhr sie fort: »Du warst kein armer Student. Eines Tages sah ich dich in einer eleganten Kutsche mit goldbetreßten Dienern. Am Abend hast du mir dann gesagt, du seist ein Mann aus der Hautevolée ... Warum mußtest du mir das gestehen?«
    Jeder im Sterbezimmer fragte sich, ob sie im Fieberwahn redete. Tränen des Schmerzes und der Freude über das Wiedersehen rollten über das Gesicht des alten Grafen.
    Â»Du wolltest eine große Dame aus mir machen, hast Lehrer engagiert ... Warum bist du nicht der Student geblieben? Mit Menschen wie dir, die Millionen besitzen, kann man auf die Dauer nicht glücklich sein. Ihr Herz gehört dem Mammon, und sie mißtrauen jedem, glauben, das Gefühl, das man ihnen entgegenbringt, gelte nur ihrem Reichtum. Warum mußten wir unser Häuschen verlassen? Wir hätten, in stillem Glück leben können. Du wolltest mich zu dir emporheben und hast mich erniedrigt. Du warst stolz auf meine Schönheit, zeigtest mich überall herum. Bald wußte die ganze Stadt: lch bin deine Geliebte. Man sagte, ich sauge dich aus. Aber du weißt: ich habe nie gewollt, daß du so viel Geld für mich ausgabst. Und dann hast du die andere geheiratet, und ich hatte nicht die Kraft, dich aufzugeben. So blieb ich deine Freundin, auch wenn ich sehr litt. Gott hat mich dafür bestraft, daß ich mich nicht von dir trennte, weil ich dich so sehr liebte.«
    Als sie wieder vor Erschöpfung innehielt, wagte abermals keiner der Umstehenden, ein Wort zu sagen. Alle standen starr und atemlos.
    Claire sank auf die Knie und preßte ihr Taschentuch gegen den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken. Die Nonne hatte schon zu viele Kranke im Delirium erlebt, als daß sie den Sinn fürs Praktische hätte verlieren können. Sie ging zum Bett und deckte Madame Gerdy wieder zu.
    Â»Sie können sich erkälten«, sagte sie dabei.
    Â»Sie muß weitersprechen!« rief der Offizier.
    Als hätte sie die Worte vernommen, fuhr Madame Gerdy fort: »Niemand weiß, was ich gelitten habe. Ich wurde beobachtet, und man bekam heraus, daß ich oft Besuch von einem Offizier erhielt. Dieser Offizier war mein Bruder, ein Oberst, der empört war, als er erfuhr, daß ich einer Liebhaber hatte. Doch er fand sich damit ab, als er sah, wie groß meine Liebe war. Da es mit seiner Stellung nicht vereinbar war, daß seine Schwester als die Maitresse eines reichen Mannes lebte, kam er nur heimlich. Er wollte dich, Guy, zum Duell fordern, als ihm zu Ohren kam, daß du mich der Untreue verdächtigtest. Nur schwer konnte ich ihn davon abhalten.
    Louis, sag du ihm, daß ich die Wahrheit spreche!«, wandte sie sich an den Oberst.
    Â»Das kann ich beschwören«, erklärte dieser. »Meine Schwester spricht die Wahrheit.«
    Â»In deiner Gegenwart fühle ich mich wieder gesund werden!« Madame Gerdy hatte sich wieder dem Grafen zugewandt und streckte die dünnen Arme nach ihm aus. »Umarme mich!«
    Der Graf rührte sich noch immer nicht vom Fleck.
    Â»Aber nimm mir mein Kind nicht, Guy!« rief die Kranke. »Ich flehe dich an! Sag nicht, du willst ihn mit deinem Namen und deinem Vermögen glücklich machen. Verlange dieses Opfer nicht von mir, auch wenn es zu seinem Besten sein sollte. Es ist mein Sohn, und ich will für ihn sorgen. Das andere Kind ist kein Ersatz für mich. Soll denn deine Frau meinen Sohn in den Armen halten? Nie! Laß mich meinen Noël behalten!
    Zürne nicht darum mit mir, gib dein schreckliches Vorhaben auf! Schon der Gedanke an so etwas ist gottlos, und Gott wird uns dafür strafen. Eines Tages wird die Wahrheit ans Licht kommen, und die Kinder werden Rechenschaft von uns verlangen. Guy, ich sehe meinen Sohn zornig zu mir kommen mit deinen Briefen ...« Ihr Gesicht wurde starr, als ob sie eine Erscheinung hatte. »Er droht mir, er schlägt mich! Hilf mir doch! Nein, das darf niemand erfahren. Ich bin doch seine Mutter, das kann ich beschwören. Aber mein Sohn tut so, als glaubte er mir nicht. Was soll ich tun, Guy? Damals konnte ich mich dir nicht widersetzen, ich konnte und wollte dir aber auch nicht gehorchen ...« Ein Geräusch an der Wohnungstür ließ sie innehalten. Als Noël bleich, aber gefaßt ins Zimmer trat, zuckte Madame Gerdy wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie ihm entgegen

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