Der Fall Lerouge
verspreche ich hier feierlich. Aber erst müssen wir Albert aus dem Gefängnis holen. Dazu brauchen wir irgendeinen, der sich in der Justiz auskennt, einen Anwalt ...« Er dachte einige Sekunden lang nach und rief dann: »Ich habâs! Wir nehmen am besten Noël!«
»Noël?« fragte Claire erstaunt.
»Meinen Sohn« sagte der Graf. »Alberts Halbbruder. Er ist ein ausgezeichneter Anwalt. Und den Justizpalast kennt er wie seine Hosentasche.«
Commarin sah, wie sich auf Claires Gesicht Unbehagen breitmachte.
»Keine Sorge«, beruhigte er sie. »Noël ist nicht nur Alberts Bruder, er ist auch Alberts Freund. Er hat mir in diesem Raum selbst gesagt, daà er Albert für unschuldig hält und daà er alles tun würde, um den Irrtum aufzuklären. Er will ihn, wenn es dazu kommen sollte, vor Gericht vertreten.«
Doch diese Worte konnten Claire offensichtlich nicht beruhigen.
»Ich schicke sofort nach ihm«, fuhr Monsieur de Commarin fort. »Er weilt am Sterbebett von Alberts Mutter, die ihn aufgezogen hat.«
»Das verstehe ich nicht ...«
»Geduld, mein Kind. Albert wird Ihnen das alles später erklären. Jetzt haben wir keine Minute zu verlieren. Ich werde also ...« Er hielt inne. Daà er nicht gleich daran gedacht hatte! Er konnte doch Noël selber holen. Bei dieser Gelegenheit wäre es dann auch möglich, Valerie wiederzusehen und sich damit einen drängenden Wunsch zu erfüllen. »Am besten ist es«, entschied er, »wir gehen selber zu Noël.«
»Dann lassen Sie uns aber sofort aufbrechen.«
»Aber ob ich Sie mitnehmen soll?« Der alte Graf zögerte. »Verstehen Sie mich recht: Es ist nur wegen der Schicklichkeit.«
»Schicklichkeit!« sagte Claire ungeduldig. »Wenn es um Albert geht, begleite ich Sie überallhin. Ich lasse meiner GroÃmama durch meine Gesellschafterin eine Nachricht zukommen.«
»Wenn Sie meinen«, sagte der Graf und klingelte nach einem Diener, der den Wagen bereitstellen sollte. Auf der groÃen Freitreppe war er dann nicht davon abzubringen, Claire seinen Arm anzubieten.
»Sie haben mich um zwanzig Jahre jünger gemacht«, sagte er heiter. »Jetzt müssen Sie mich auch so, wie ich geworden bin, in Kauf nehmen.«
Als sie aber die Treppe zu Madame Gerdys Wohnung hinaufstiegen, blieb er auf jedem Podest schweratmend stehen. Das bevorstehende Wiedersehen mit Valerie lieà ihn sein wahres Alter wieder spüren.
Das Dienstmädchen gab ihnen die Auskunft, Monsieur Noël habe gerade das Haus verlassen, und sie wisse nur, daà er in einer halben Stunde zurück sein werde. »Wir warten auf ihn«, entschied der Graf und ging durch die Tür, und das Dienstmädchen hinderte ihn nicht, obwohl Noël sie angewiesen hatte, niemanden einzulassen. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Graf sich bewegte, lieà sie die Anweisung vergessen. Sie führte ihn und Claire in ein Zimmer, in dem sich schon drei Männer aufhielten: der Geistliche, der Arzt und ein groÃer, älterer Offizier, der das Kreuz der Ehrenlegion an der Brust trug.
Diese drei standen am Kamin und unterhielten sich. Den Gruà der unbekannten Neuankömmlinge erwiderten sie mit einigem Erstaunen. Der Offizier bot Claire einen Stuhl an.
Der Graf fühlte sich veranlaÃt, sich vorzustellen und sein Erscheinen näher zu erklären.
»Entschuldigen Sie bitte mein Eindringen«, sagte er, nachdem er sich die erste Verlegenheit aus der Kehle geräuspert hatte. »Aber wir müssen Noël Gerdy in einer dringenden Angelegenheit sprechen. Ich bin der Graf de Commarin.«
Die Nennung dieses Namens lieà den alten Offizier eine Kehrtwendung auf dem Absatz machen. Man sah ihm an, wie sehr er bemüht war, eine offensichtlich wenig schmeichelhafte Bemerkung zu unterdrücken. Verstimmt zog er sich in die eine Fensternische zurück. Doch nur Claire registrierte dieses Verhalten.
Da niemand antwortete, ging der Graf auf den Priester zu und fragte leise: »Wie geht es Madame Gerdy?« Doch nicht der Priester, sondern der Arzt, der die Frage gehört hatte und begierig war, die Bekanntschaft eines so bekannten Mannes zu machen, antwortete: »Sie wird den Tag kaum überleben, Monsieur.«
Der Graf verzog das Gesicht, als hätte die Antwort ihm einen schmerzhaften Stich versetzt, und erst nach einer Pause, ausgefüllt mit bedrückendem Schweigen,
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