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Der Fall Lerouge

Der Fall Lerouge

Titel: Der Fall Lerouge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Èmile Gabroriau
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wagte er eine zweite Frage.
    Â»Kann sie ihre Freunde noch erkennen?«
    Â»Ich glaube nicht, Monsieur. Zeitweise liegt sie im Delirium. Vor einer Stunde allerdings hatten wir den Eindruck, daß ihr Kopf wieder klarer würde. Deshalb haben wir auch nach dem Priester geschickt.«
    Â»Bis jetzt aber ist sie noch völlig verwirrt«, warf der Gottesmann ein. »Ich kenne Madame Gerdy seit zehn Jahren und habe sie fast jede Woche besucht. Sie ist eine außerordentliche Frau ...«
    Â»Sie muß Unsagbares leiden«, unterbrach ihn der Arzt, der sich den Gesprächspartner nicht wegschnappen lassen wollte, und wie zur Bestätigung seiner Worte hörte man einen lauten Schrei aus dem Nebenzimmer.
    Â»Da! Da!« stammelte der Graf, der bleich geworden war und am ganzen Körper zitterte.
    Claire saß bedrückt auf ihrem Stuhl. Sie spürte das Unheil, das in der Luft lag.
    Â»Ist das wirklich ihre Stimme gewesen?« fragte Monsieur de Commarin verwirrt.
    Â»Das war ihre Stimme!« klang es unwirsch aus der Fensternische. Dann trat der alte Offizier wieder näher an die Gruppe heran.
    Der Graf hätte zu jeder anderen Zeit den rauhen Ton der Antwort registriert. In diesem Augenblick aber bemerkte er ihn nicht. Er war mit seinen Gedanken ganz in der Vergangenheit, und es kam ihm vor, als sei er noch gestern bei Valerie gewesen.
    Â»Könnte ich sie sehen?« fragte er schüchtern.
    Â»Auf keinen Fall!« entschied der Offizier.
    Â»Und warum nicht?«
    Â»Sie soll wenigstens in Frieden sterben können.« Die Worte trafen den Grafen wie ein Hieb. Mit gesenktem Blick stand er nun vor dem Offizier wie vor seinem Richter.
    Â»Warum sollte Monsieur de Commarin Madame Gerdy nicht sehen?« sagte der Arzt eilfertig. »Sie würde ihn ohnehin nicht erkennen.«
    Das bestätigte der Priester, der zuvor ohne Erfolg mit Madame Gerdy zu reden versucht hatte.
    Dann stimmte auch der Offizier nach langem Nachdenken zu.
    Â»Gehen Sie zu ihr«, sagte er. »Vielleicht ist es Gottes Wille.«
    Monsieur de Commarin wankte, als er mit dem Priester das Zimmer betrat, so daß der Arzt ihn stützen mußte.
    Claire und der alte Offizier blieben im Türrahmen stehen.
    Des Grafen Schritt stockte. Er konnte nicht weitergehen. War das wirklich die bezaubernde Valerie? Er sah in ein von Schmerz und Gram zerstörtes Gesicht, das ihm völlig fremd vorkam.
    Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. Madame Gerdy, als ahne sie die Gegenwart des einstigen Geliebten, richtete sich langsam auf, schob den Eisbeutel von der Stirn und strich mit den abgezehrten Händen durch das Haar.
    Â»Guy!« schrie sie. »Guy!«
    Den Grafen überlief ein Zittern, während die übrigen Anwesenden mit Erstaunen die Veränderung sahen, die mit der Sterbenden vor sich ging. Ihre Züge belebten und verklärten sich vor Freude, und in ihre Augen, die tief in den Höhlen lagen, trat ein Glanz von Zärtlichkeit.
    Â»Guy«, wiederholte sie, diesmal mit sanfter Stimme. »So bist du doch gekommen! Warum hast du mich so lange warten lassen? Ach, wie habe ich gelitten. Der Schmerz, dich nie mehr zu sehen, hätte mich fast umgebracht. Wer hat dich von mir ferngehalten? Noch immer deine Familie? Konntest du ihnen denn nicht sagen, daß ich dich liebe wie niemand auf Erden? Oder warst du böse auf mich? Ich erinnere mich: Deine Freunde wollten uns auseinanderbringen. Man hat mich um mein Glück beneidet. Aber ich weiß, daß du ihren Lügen nicht geglaubt hast. Du hast die Verleumder verachtet. Wärst du sonst hier?«
    Erschöpft hielt die Todkranke inne. Ihr Atem ging rasselnd, Schweißtropfen standen ihr auf der Stirn.
    Â»Als ob ich dich je hätte hintergehen können!« fuhr sie fort, nachdem sie einigermaßen wieder zu Kräften gekommen war. »Du hast mir mehr gegeben, als ich von einem anderen hätte erhoffen können. Und ich habe mich dir ganz geschenkt.« Ihr ausgemergeltes Gesicht überflog ein Lächeln. »Erinnerst du dich? Ich verdiente mit Klöppeln meinen Unterhalt, und du erzähltest mir, als wir uns zum erstenmal sahen, du seist ein armer Student. Denkst du noch an das Landhäuschen in St-Michel? Da verlebten wir unsere glücklichste Zeit. Und das Kleid – weißt du noch? –, das schöne Kleid! So eins hatte ich noch nie besessen. Und die Schuhe ...« Madame Gerdy schien, überwältigt von den

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