Der Fall Lerouge
ersetzt.
Kaum hatte der Seemann das Zimmer verlassen, als etwas Ungewöhnliches geschah. Constant, der hölzerne, sture, gefühllose Protokollant brach nach fünfzehn Jahren sein Schweigen, um eine eigene Ansicht vorzutragen.
»Dieser Fall, möchte ich behaupten«, sagte er, »ist eine ganz auÃergewöhnliche Angelegenheit.«
»Da haben Sie recht, Constant«, erwiderte Daburon, nachdem er sich von seinem Staunen erholt hatte. »Alle Prognosen und Vorurteile sind über den Haufen geworfen worden.«
Und er dachte daran, wie er noch gestern geglaubt hatte, einen simplen Mordfall zu bearbeiten, in dem es nur noch darauf ankam, das Geständnis des Mörders zu erlangen.
Zum Glück war nichts so falsch angefaÃt worden, daà es nicht wieder hätte rückgängig gemacht werden können. Daburon schauderte, als er daran dachte, daà ihn nur der Zufall vor noch gröÃerer Verwicklung in den Irrtum bewahrt hatte. Und er nahm sich fest vor, daà es sein letztes Verfahren als Untersuchungsrichter sein sollte.
Die Leidenschaft für seinen Beruf war erloschen.
Claires harte Worte hatten seine alten Wunden aufgerissen. Er fühlte, sein Leben war verfehlt.
Indessen wandte er sich entschlossen wieder seiner Arbeit zu, ohne danach zu fragen, was wohl aus ihm werden mochte, wenn er seinen Beruf aufgegeben hatte.
Ob Albert nun schuldig war oder nicht: Ihm gebührte der Titel des Grafen de Commarin. Aber der Mörder konnte er auch nicht sein. Er, Daburon, muÃte so schnell wie möglich mit dem alten Grafen sprechen. Und er erteilte Constant den Befehl, diesen sofort holen zu lassen.
Der Untersuchungsrichter war sich bewuÃt, daà er eine ihm peinliche Pflicht würde erfüllen müssen. »Monsieur«, das würde er zu erklären haben, »ich bin von einem Irrtum befangen gewesen. Albert ist doch Ihr legitimer Sohn.« Vielleicht, so überlegte er, würde ihm die Mitteilung, daà Albert unschuldig sei, die Aufgabe ein wenig erleichtern.
Dann muÃte auch Noël die Wahrheit erfahren, eine Wahrheit, die ihn aus allen Träumen reiÃen würde. Vielleicht fand sich der alte Graf zu einer finanziellen Entschädigung für ihn bereit.
Wenn aber Albert unschuldig war, wer konnte dann der Mörder sein?
Ein vager Verdacht kam Daburon. Doch er wies ihn sogleich als unsinnig zurück. Allein, er drängte sich wieder auf, immer wieder, sooft er ihn auch zu unterdrücken versuchte, und als der Graf de Commarin sein Büro betrat, hatte er schon feste Gestalt angenommen.
* * *
N ach seinem vergeblichen Plädoyer für Albert, hatte Vater Tabaret zu handeln begonnen, mit der ihm eigenen Hartnäckigkeit und ganz auf sich allein gestellt. Da Geld bei ihm keine Rolle spielte, hatte er ein Dutzend Detektive engagiert und war mit diesen und Lecoq nach Bougival gefahren. Haus für Haus hatte er in der ganzen Gegend abgesucht, und nun zeichneten sich erste Erfolge ab.
Der Mörder, das stand jetzt für ihn fest, war nicht in Rueil ausgestiegen, wie das die Einheimischen zu tun pflegten, sondern in Chatou. Der Stationsvorsteher erinnerte sich an einen jungen, dunkelhaarigen Mann mit Schnurrbart, der einen Mantel trug und einen Schirm bei sich gehabt hatte. Um acht Uhr fünfunddreiÃig abends war dieser junge Mann angekommen und war im Eilschritt in Richtung Bougival gegangen. Zwei Männer aus Marly und eine Frau aus Malmaison hatten ihn auf dem Weg gesehen, und ihnen war sein schneller Schritt aufgefallen. AuÃerdem, so sagten sie aus, hätte er geraucht. Dann hatte ihn der Zöllner an der Seine-Brücke in Bougival bemerkt, als er sie, ohne den Brückenzoll zu zahlen, überqueren wollte. Der Beamte war ihm hinterhergelaufen und hatte ein Zehnsoustück erhalten. Der Mann aber hätte nicht auf die Herausgabe des restlichen Geldes gewartet, sondern war im Geschwindschritt weitergegangen.
Ferner konnte sich der Stationsvorsteher vom Bahnhof in Rueil erinnern, daà ein Mann, der ganz auÃer Atem war, in letzter Minute vor Abgang des Zugs um zehn Uhr fünfzehn ein Billett zweiter Klasse nach Paris gekauft hatte. Seine Beschreibung des Passagiers stimmte mit der des Beamten in Chatou und des Brückenzöllners überein.
Vervollständigt wurde die Reihe der Zeugen durch einen Bäcker aus Asnières, der mit dem bisher noch Unbekannten im selben Abteil gefahren war und der Tabaret schrieb, er wolle
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