Der Fall Maurizius
übertriebene Milde den Widerstand zu ermatten suchte, bald drohte, bald versprach, Mithäftlinge als Spione und Aushorcher dang, den ganzen Apparat der unterirdischen Justiz sich dienstbar machte, die Zeugen einschüchterte und unermüdlich an einem Gespinst webte, dessen Muster ihm vorgezeichnet war und das er fertigstellen mußte, weil er eben hierzu beauftragt und beamtet war. Da sehnt man sich nach der endlichen Erlösung, sogar die Hochnotpein im Gerichtssaal ersehnt man mit erschöpftem Herzen, man sieht, man hört, man spürt nichts mehr, man will nicht mehr kämpfen, man hat verzichtet, man schweigt. Alles ist gleichgültig geworden. Darum ist das Zuchthaus, in dem man dann verschwindet, wie das tröstliche Ruhen in einem Grab, wenigstens in den ersten Wochen. Keine Fragen mehr, keine rätselhaft feindseligen Zeugen mehr, kein Zureden des Advokaten mehr, keine Gerüchte, keine Ängste, keine Eidesformeln, keine Unterschriften unter ein abgefoltertes Protokoll, – balsamischer Frieden.
»Es ist vielleicht das erstaunlichste Pyramidensystem zweckbewußter menschlicher Energien, das ersonnen werden kann«, sagte Maurizius still, fast traurig vor sich hin. »Das geb ich gern zu. Ja, das geb ich zu. Enorm geistreich. Wenn man die Spitze erreicht hat, ist der Delinquent unten zerquetscht. Ich will nicht in Abrede stellen, daß es nicht auch wohlwollende, mitleidige, anständig fühlende Leute in dieser Armee von Jägern und Jagdgehilfen gibt. Es wäre undankbar, wenn ich's täte, vor allem hier in dem Haus waren einige, an deren Güte und Freundlichkeit ich mich ordentlich aufrichten konnte, da war zum Beispiel ein gewisser Mathisson, er ist vor sechs Jahren vom Dienst enthoben worden, weil er einem todkranken Sträfling einen Brief seiner Braut zugesteckt hat, der tröstete mich immer und sagte: Nur Geduld, Herr Doktor, er nannte mich stets Herr Doktor, nur die Zuversicht nicht verlieren, für Sie kommt schon noch der Tag der Gerechtigkeit. Das hat mir wirklich geholfen, wennschon ich seinen Glauben nicht teilte. Nein, dazu lag kein Grund vor. Na, und dann vor allem einer . . . über den will ich nicht reden. Nein, über den kann ich nicht reden . . . Und wie selten sind solche, wie müssen sie sich fürchten, wie sorgfältig ihre menschlichen Anwandlungen verheimlichen, Liebe zu erzeigen oder bloß Erbarmen ist ja Verstoß gegen die Disziplin, und da eine derartige Neigung bald ruchbar wird, paßt man natürlich scharf auf. Hält man sich vor Augen, daß alle diese Leute, und nicht nur die, das geht hoch hinauf, ich mag nicht sagen wie hoch, wenn man sich vorstellt, daß diese Leute einen büßen lassen für alles, was sie heimlich erbittert, für alles, was sie nicht erreicht haben, für ihre häusliche Misere, für ihre schlechte Bezahlung, für ihre soziale Gedrücktheit, für ihre ganze gescheiterte Existenz unter Umständen, wenn man überlegt, daß die Subalternen unter ihnen fast lauter Menschen sind, denen es Wollust ist, zu peinigen und leiden zu machen, und dafür können sie nichts, es ist der Machtrausch, der sie tröstet, denn ihr Leben ist ebenso finster wie der Kerker, den sie bewachen, oder wie die Schicksale, die sie regieren. Wenn man sich das vorstellt, muß man doch fragen, ob Menschen geeignet sind, Menschen zu verurteilen, Menschen zu strafen. Was bedeutet das denn, so wie es ist: strafen? Wer darf es? Wem steht es zu? Einer spricht es aus, gibt es weiter, die Maschine packt einen, man kommt unter die Räder: Strafe. Eine ungeheuerliche Heuchelei. Eine Pest von Heuchelei.« Er atmet hoch, wie ein Kind nach dem Schluchzen. »Aber ich falle Ihnen lästig«, fährt er in unzufriedenem Ton fort, als ärgere er sich über seine Redseligkeit, »es trifft sich nur so selten, daß man direkt zu einer Spitze sprechen kann. Die Spitze steht im Licht, was unten ist, davon weiß sie nichts.« Ein fahl aufleuchtender Blick, in welchem Angriff, Sichanklammern und wilder Trotz ist, trifft Herrn von Andergast. Merkwürdig genug, daß dieser das form- und titellose Sie, mit dem sich der Sträfling beständig an ihn wendet, ohne eine Miene der Mißbilligung hinnimmt. Es ist ihm vielleicht nicht wichtig, auf der Ehrerweisung zu bestehen. Fast scheint es, als habe er sein Amt, seine distanzierende Würde vergessen. Unwillig beengt lauscht er den Worten des andern. In manchen Augenblicken empfindet er sein Hiersein, das Gegenübersein, das Gegnerische (wie Maurizius) als einen Austrag lang gesammelter und
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