Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
Vom Netzwerk:
jeden Tag weniger, was dann, wenn es zu Ende war? Er konnte sich nicht bei Warschauer einnisten, der hatte selber nichts, das hieße auch, sich ihm auf Gnade und Ungnade ausliefern. Die Zeit drängt, der alte Mann in Hanau zeigt sein verstörtes Gesicht wie einer, nach dem schon der Tod greift, für den andern im Zuchthaus verrinnt wieder eine Woche und wieder eine Woche, Trismegistos sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen, halbabgekehrt, und schiert sich nicht um Gerechtigkeit. Irgendwo im Unbekannten sucht die Mutter nach ihm, es ist nicht zu ertragen länger, nicht zu ertragen, er hat alle Mühe, sich zusammenzunehmen, und daß er sich nichts merken läßt, darauf kommt es an, daß er kaltblütig bleibt, den Kopf oben behält. Er erkennt nun auch, wohin ihn der Mensch zieht, dieser Warschauer-Waremme, in eine Aberwelt wird er hineingesaugt, in die unermeßlichen Finsternisse einer machtvollen Seele, er hat sich das alles anders gedacht, einfacher, schwierig wohl, jedoch mehr im Sinn einer Rechenaufgabe, eines mit List und Geduld aufzudröselnden Knotens, nicht in solcher Weise schwierig, daß ein Leben mit seiner ganzen Problemlast ihm auf die Brust sich wälzt, ein geheimnisvoller fremder, dunkler Charakter, an dem alles erst enträtselt werden muß, jeden Tag von vorne mit einem Minimum an Erfahrung und einem Maximum an Selbstverleugnung (denn nichts ist ihm geheuer an Waremme, nichts liebt er an ihm, nichts macht ihn weich, stimmt ihn versöhnlich, am liebsten möchte er ihn gebunden vor sich sehen und ihn mit einem glühenden Eisen in der Hand zwingen, zu gestehen: Ja oder nein; nichts weiter: Ja oder nein), ach, alles, Stück um Stück, herausklauben, Stück um Stück wieder zusammensetzen und nicht wissen, ob man was erreichen wird, das Ja oder Nein. Er friert, es ist ihm kalt, er fiebert, es ist ihm heiß, alle fünf Minuten wechselnd, er sagt sich, wenn du dir nachgibst, bist du ein Schuft oder ein Tropf, also halte fest.
    Er ging mit hinauf. Eine halbe Stunde hatte Warschauer bewilligt. Er hatte nicht mit der Ausdauer, mit der Geriebenheit seines »Famulus« gerechnet, vor allem nicht mit dem eigenen, aufgerührten, sich selbst herausfordernden Mitteilungsbedürfnis, das ihn automatisch weitertrieb, genug, es war, wie ich gleich vorausschicken will, drei Uhr nachts, als Etzel das Haus verließ. Als er auf die Straße trat, in der Gegend des Exerzierplatzes fahlte der Himmel schon, war er zunächst nicht imstande, Fuß vor Fuß zu setzen, er legte sich der Länge lang auf die steinerne Staffel vor einem Schnapsladen, der eben geschlossen worden war, drückte die flachen Hände gegen die Schultern, preßte die Lider zu und atmete, so tief er konnte. Dabei zitterte er fortwährend. Dies, wie gesagt, vorausgeschickt.
    Auf dem engen Gangflur oben war Lärm, als sie die Stiegen erklettert hatten. Widerlich streitende Stimmen drangen aus der Paalzowschen Wohnung. Paalzows Junge flegelte seine Mutter wegen Geld an, dazu quäkste ein Säugling erbärmlich. In Warschauers Stube war die Luft wie ranziges Fett, der Professor fand die Streichhölzer nicht gleich und fluchte leise, endlich brannte die Gasflamme, da sahen sie einen Heerbann großer schwarzer Küchenschaben, die unter der Alkoventür herauskrochen und ekel um das Gestell mit dem Proviant wimmelten. »Gediegen«, sagte Etzel, stand eine Weile tiefsinnig, dann tränkte er ein Handtuch mit Spiritus, warf es über das Geziefer, wo es am dichtesten krabbelte, und als einige hundert betäubt dalagen, griff er zum Besen und kehrte sie seelenruhig zur Tür hinaus. »Kaffee?« fragte er. Warschauer nickte, und der Kocher wurde zum soundsovielten Male heute in Funktion gesetzt. Warschauer ging mit seinem Tambourschritt auf und ab, das Kreuz hohl, die Hände unter den Rockschößen, die Stirn ungewöhnlich finster. Ein Grammophon im dritten Stock spielte heiser krächzend einen Gassenhauer, Etzel summte den Text mit: »Fräulein Len, schlafen gehn . . .« – »Ich bitte, hören Sie doch mit dieser unanständigen Scheußlichkeit auf, Mohl«, sagte Warschauer pastoral, blieb stehen und sandte ihm einen zornigen Blick zu. »Auch recht«, gab Etzel zurück, »werd ich's das nächste Mal fertig singen. Aber eine Liebe ist der andern wert, heißt es, so sagen Sie mir doch, Herr Professor . . . nein, ich bin nicht still . . . ist mir egal, wenn Sie auch noch so wütend dreinschaun, es muß jetzt . . . hätten Sie erst gar nicht angefangen. Wer A sagt, muß B sagen,

Weitere Kostenlose Bücher