Der Fall Maurizius
gekümmert.« – »Schön. Das wollt ich wissen.« Er schwieg ein paar Sekunden und stocherte mit seinem Stock im Sand herum. »Können Sie sich vorstellen, daß ein Mensch sich selber über seine Geburt belügt? Komplizierte Sache. Der nicht sein wollen, der man ist, die Wurzel verleugnen, aus der man gewachsen ist, das heißt die eigene Haut wie einen geborgten Mantel tragen. Ich war das Kind jüdischer Eltern, die in der zweiten Generation bürgerlicher Freiheit lebten. Meinem Vater war noch gar nicht zum Bewußtsein gekommen, daß der Zustand scheinbarer Gleichberechtigung im Grunde nur Duldung war. Leute wie mein Vater, ein ausgezeichneter Mann sonst, hingen religiös und sozial in der Luft. Den alten Glauben hatten sie nicht mehr, einen neuen, will heißen den christlichen, anzunehmen weigerten sie sich, teils mit guten, teils mit schlechten Gründen. Der Jude will Jude sein. Was ist das: Jude? Vollkommen befriedigend kann es kein Mensch erklären. Mein Vater war stolz auf die Emanzipation, eine listige Erfindung das, sie nimmt dem Unterdrückten den Vorwand, sich zu beklagen. Die Gesellschaft schließt ihn aus, der Staat schließt ihn aus, das körperliche Getto ist zu einem seelischen und geistigen geworden, man wirft sich in die Brust und nennt es Emanzipation. Haben Sie mal darüber nachgedacht, junger Mohl, oder sind Sie zufällig einem Menschen begegnet, der Anlaß hatte, selbst über gewisse . . . na, sagen wir Disharmonien nachzudenken? Nicht? Sie hatten Wichtigeres zu tun, ich verstehe, aber vielleicht ist Ihnen trotzdem zu Ohren gekommen, was sich gegenwärtig hierzulande abspielt? Ich spreche nicht davon, daß sie das Bettelalmosen eines jämmerlichen Bürgerrechtes am liebsten wieder zurücknehmen möchten. Täten sie's doch, es wäre wenigstens ein ehrliches Verfahren, es wäre lobenswerter als . . . na, lassen Sie mich nur ein Beispiel anführen, als Grabsteine in jüdischen Friedhöfen zu demolieren, meinen Sie nicht? Was sagen Sie dazu, geschätzter Mohl? Grabsteine demolieren . . . he? Friedhöfe schänden . . . Das ist neu in der Kulturgeschichte, he? Dernier cri. Ich finde, daß dagegen alle Brunnenvergiftungs- und Ritualmordexzesse zwar blutrünstige und hirnlose, aber, wenn man großzügig denkt, durch Wahn und Leidenschaft entschuldbare Veranstaltungen waren, was finden Sie? Sie schweigen, kleiner Mohl? Ich ehre Ihr Schweigen. Sehen Sie, das mit den Grabsteinen ist ein Symbol, infernalisch, einzigartig. Haben Sie mal beobachtet, wie sich auf einem verbrannten Blatt Papier die letzten Funken verlaufen, eh es ganz schwarz wird? So ist das. Die letzten Funken von Würde, Selbstachtung, Anstand, Humanität oder wie die Schwindelworte sonst noch lauten, verlaufen sich, und alles wird schwarz. Aber ich schweife ab. Ich habe allerdings den Satz geprägt: Abschweifen heißt ein Thema ausschöpfen. Ich will auch bei meinen Familienerinnerungen nicht länger verweilen. Nur Geduld, ich komme schon vorwärts, nämlich zu mir. Vorher noch ein Axiom, teurer Mohl, und eines von allgemeiner Gültigkeit: In jedem Leben gibt es einen Augenblick, wo sich der Mensch nach den polaren Gegensätzen seiner Natur entscheiden kann. Wo demnach Shakespeare ebensogut ein genialer Räuber à la Robin Hood hätte werden können wie Dramenschreiber, Lenin ebensogut Chef der zaristischen Geheimpolizei wie der Vernichter des Systems. Möglicherweise wäre ich unter einem bestimmten Anstoß, der aus unerforschlichen Ursachen nicht erfolgte, ein jüdischer Führer, ein Luther des Judentums geworden. Statt dessen . . . na ja, davon rede ich eben. Unser äußeres Tun hängt von einem tiefen Dualismus ab, der uns eingepflanzt ist wie der Instinkt von rechts und links. Lassen Sie sich niemals erzählen, Mohl, daß ein Mensch unter gewissen Umständen nicht anders hätte handeln können, als er gehandelt hat. Es ist nicht wahr. Die Frage ist nur, wie weit man zurückgeht, um den Punkt zu finden, wo seine Freiwilligkeit noch intakt war. Ich kann immerhin mit einer Sorte von Erlebnissen aufwarten . . . langweile ich Sie auch nicht? Wirklich nicht? Schön. Worunter ich als Knabe schon wie ein Hund litt, das war die moralische Feigheit meiner Stammesgenossen. Daß sie sich zufrieden gaben mit ihrer Helotenexistenz und sich mit einem mythologisch verkünstelten Gefühl von Auserwähltheit trösteten, ja, das. Oder in dem ihnen gnädig eingeräumten Pferch die Herren spielten, vielmehr das Herrentum ihrer Herren nachäfften. Ich
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