Der Fall Maurizius
weiß. Beim besten Willen kann ich mich nicht mehr auf alles besinnen. So ein altes Gehirn ist ein Sieb mit großen Löchern. Ich will nicht nachforschen, woher dein Interesse stammt; es könnte mich am Ende nicht freuen. Also schön, es war eine schreckliche Affäre. Die Leute redeten wochenlang von nichts anderem. Um das Für und Wider erhitzten sie sich in allen Wirtshäusern und Klubs. Es gab Volksaufläufe; an dem Tag, wo das Todesurteil verkündet wurde, mußte Militär ausrücken. Ich war zu der Zeit in Homburg drüben, ich erinnere mich noch, der Arzt verbot mir, die Zeitungen zu lesen. Auch nachdem der Prozeß längst beendigt und Maurizius, wie hieß er denn nur mit Vornamen?, hab's vergessen, und Maurizius zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt war, kam die Geschichte nicht zur Ruhe. Viele glaubten steif und fest an seine Unschuld. Vielleicht bloß, weil er selber bis zum letzten Atemzug seine Unschuld beteuert hatte. Dazu kam, daß er kein gemeiner Verbrecher war. Nein, das war er nicht. Ein Mann der Wissenschaft, manche behaupteten, eine Kapazität in seinem Fach. Manche wieder sagten, ein Windbeutel. Immerhin hatte er es trotz seiner Jugend, ich glaube, er war noch nicht sechsundzwanzig, als Kunsthistoriker schon zu Stellung und Ansehen gebracht. Ich hab sogar ein kleines Buch gehabt, das er verfaßt hatte. Ich muß es mal heraussuchen, es liegt sicher in einer von den Kisten auf dem Dachboden. Jetzt erinner ich mich auch an den Titel: Über den Einfluß der Religion auf die bildende Kunst des neunzehnten Jahrhunderts. Hat mich interessiert damals; Religion, Kunst, darüber wurde doch in allen Salons gequatscht. Wer sollte solch einen Mann für einen Meuchelmörder halten! Ich konnt es nie recht glauben, daß er dazu fähig war. Die eigene Frau aus dem Hinterhalt in den Rücken schießen. Und unter was für Umständen! Eine verworrene Geschichte. Eine gottverlassene, jammervolle Geschichte, von der ich natürlich keinen Dau mehr behalten habe. Ich weiß nur, daß alles gegen ihn war, Menschen und Sachen. Alles zeugte gegen ihn, Menschen, Sachen, Raum und Zeit. Ein lückenloser Indizienbeweis, wie die Juristen es nennen. Das Zustandekommen dieses Beweises war das eigentliche Verdienst deines Vaters, dessen entsinn ich mich noch gut. Er war sehr stolz auf sein Werk, jung und ehrgeizig, wie er war. Ein Glockengießer kann nicht stolzer sein, wenn ihm ein schwieriger Guß gelungen ist. Er hatte gewiß alle Ursache dazu; ich stell mir vor, daß so was noch heikler ist als Glockengießen. Der alte Geheimrat Demme, der eben kein Esel war, sagte mir mal: ›Ein sauberer Indizienbeweis ist für den Kriminalisten, was die richtige Berechnung einer Kometenbahn für den Astronomen ist.‹ Das begreif ich. Bis man so weit gelangt, daß eine Tat wahrer redet als der Mensch, der sie getan hat, das ist nichts Kleines . . .«
Etzel saß da und schaute. Der Mann mit der Kapitänsmütze wurde immer rätselhafter. Da er unmöglich der Maurizius sein konnte, der verurteilt war, sein Leben hinter Kerkermauern zu verbringen, so handelte es sich darum, zu erfahren, in welchem Zusammenhang er mit diesem stand. Was wollte er von ihm, was stellte er sich ihm in den Weg, musterte ihn mit bösen Schielaugen? Hatte er einen Auftrag? Eine Botschaft? Was für eine Botschaft? Wollte er ihn vielleicht als Mittler gewinnen beim Trismegistos? Zum Spion machen gegen Trismegistos? Schaurige Sache. Wenn irgendwo, da war Geheimnis. Man mußte aufpassen. Man mußte bereit sein. Jedes kleinste Zeichen war von Wichtigkeit. Während er so saß und sann, überzogen sich seine Wangen mit einer Blässe, die sie schimmernd machten wie Perlmutter. Es erzitterte etwas in der Tiefe seines Wesens, und er duckte die Schultern wie unter einem drohenden Schlag.
»Was ist mit dir, Junge?« forschte die Generalin strengen Tons. »Du gefällst mir seit einiger Zeit nicht mehr.« Sie erhob sich elastisch, gab Etzel einen Klaps auf die Backe, und als er aufstand, schob sie ihren Arm unter seinen und ging mit ihm ins Wohnzimmer. Dort zündete sie sich eine Zigarette an, reichte auch Etzel eine, und zwar so selbstverständlich, als sei er ihr Hausfreund und teile alle ihre Gewohnheiten, dann hakte sie sich abermals in ihn ein und wanderte in dem riesigen Raum mit ihm auf und ab. »Jetzt beichte mal«, fing sie an; »was ist los? Warum siehst du aus, wie wenn dir die Hühner das Brot weggeschnappt hätten? Hapert's in der Schule? Vorigen Herbst hast du ja noch
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