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Der Fall Maurizius

Der Fall Maurizius

Titel: Der Fall Maurizius Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Wassermann
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könnt es uns sogar nützen, es zu wissen? Waremmes Eid steht dagegen. Waremmes Eid nimmt alles auf sich. Eine feste Burg, so ein Eid. Sehn Sie mal, da war die Anna Jahn, die schöne, edle, unglückliche Anna Jahn. Na ja, was glotzen Sie denn so komisch?« (In der Tat schaute Etzel betroffen empor, da der Alte die drei Beiwörter mit wütendem Hohn herauskeifte.) »So hat man's damals überall gelesen: die schöne, edle, unglückliche Anna Jahn. Gleich nach jenem Abend wurde sie schwerkrank. Sechs Wochen ist sie am Tod gelegen. So hat es geheißen. Mußte geschont werden. Keine Aufregung, um Gottes willen. Nach den sechs Wochen hat man sie in den Süden geschafft. In Nizza, oder weiß der Teufel wo, sind ihre Aussagen protokolliert worden. Erst zur Hauptverhandlung ist sie wieder erschienen. Das ganze Gericht ist zerschmolzen vor Mitleid. Ein Hochgenuß, wie rücksichtsvoll der Herr Vorsitzende beim Verhör war. Ihr die Antworten hübsch schmackhaft in den Mund gelegt. Und der Herr Staatsanwalt Andergast, Zucker und Honig. War sie doch beinah ebenfalls dem Unhold zum Opfer gefallen. Die reine Jungfrau dem nichtswürdigen Verführer. Auf einmal hat keiner mehr was von keinem Klatsch gewußt. Daß ihr die Herren Professoren und Beamten und Offiziere und Studenten nicht einen Fackelzug gebracht haben, war das reinste Wunder. Auf einmal war sie die weiße Taube, und er, lieber Gott, dafür war jedes Wort zu gut. Nur das Volk . . . das Volk hat anders gedacht. Nach dem Urteil hat's ein paar Stunden lang bös ausgesehen für die Jahn. Nun, das beiseite. Aber was ich sagen wollte . . . was wollt ich denn sagen? Ja so: Waremme . . . ohne Waremme, ohne Waremmes Zeugenschaft . . . Sie verstehen . . . hätte die Sache anders geendet. Der Mann hat uns geliefert. Der Mann, sag ich Ihnen, wandelt unter einem Fluch. Oder es gibt keinen Gott im Himmel.« (Da war plötzlich wieder das biblische Pathos; Etzel senkte den Kopf.) »Der Mann . . . ich hoffe, sein letztes Stündlein hat noch nicht geschlagen, ich hoff es zu unserm Besten und auch zu seinem, denn um sein Sterben könnt er nicht beneidet werden. Die andere, von der will ich nicht reden. Es kommt mir vor, sie hat bereits ihren Lohn dahin. Man hat allerlei gehört. Aber der Mann . . . den erwartet der irdische Richter noch. Jawohl. Jawohl.«
    Etzel sah auf die Uhr. »Ich muß heim«, sagte er erschrocken. Der Alte nickte. Etzel fragte ihn, ob er einige von den Zeitungen mitnehmen dürfe, er wolle sie lesen. Der Alte nickte. Er half ihm beim Aussuchen. Als Etzel schon im Hausgang war, lief er ihm nach, steckte ihm noch ein paar Broschüren zu und beschwor ihn, darauf aufzupassen und keine zu verlieren. »Ich geb schon acht«, versprach Etzel und setzte sich in einen leichten Trab, um den Zug zu erreichen.
    Viertes Kapitel
    1

    Denselben Abend und am folgenden Sonntag den Nachmittag und Abend verbrachte Etzel mit der Lektüre der verjährten Zeitungsartikel. Er sagte sich: ich prüfe, und blieb kühl wie ein mäßig neugieriger Zuschauer. Da es sich um Zeitungsschreiberei handelte, war er doppelt auf der Hut. Es hatte alles den Geschmack von Roman. Er liebte im allgemeinen Romane nicht. Gelehriger Schüler Melchior Ghisels, unterschied er scharf zwischen Gedicht und Vision und der von einem Zweckwillen vergewaltigten Wirklichkeit. In dieser Beziehung war er nüchtern bis zur Gefühllosigkeit. Daher war ihm das novellistisch aufgeschmückte Tagesereignis ein Greuel. Gespensterhaft, achtzehn Jahre später angesehen, eine geschminkte Leiche, die tanzt. Viele einzelne Züge blieben davon unberührt, sie entsprachen der Wahrheit der Natur, der keine Zurichtung etwas anhaben kann.
    In den nächsten Tagen – es lag noch eine ganze Ferienwoche vor ihm – entfaltete er eine heimliche Geschäftigkeit, die in dem Bestreben wurzelte, sich neue Nachrichten und Anhaltspunkte zu verschaffen, Stützen für die Erzählungen des alten Maurizius, deren subjektive Beschaffenheit unverkennbar war, Bestätigung jener Zeitungsberichte, insofern er sie, nach der einen oder der andern Seite, im Verdacht der Übertreibung und Verzerrung hatte. Aber wo solche Stützen, solche Bestätigungen suchen? Und wenn er sie fand, was berechtigte ihn, sie für verläßlicher zu halten, als was er bisher erfahren hatte? Er traute dem Gedächtnis der Menschen nicht. Er wußte aus Instinkt, daß jede Wahrheit vergessen wird, um einer angenehmen Illusion Platz zu machen. Das war es ja, was ihm die tiefe Abneigung

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