Der Fall Sneijder
übereinandergeworfen, um zwischen mir und dem Tod einen Puffer zu bilden.
Zwei gebrochene Beine, eine ausgekugelte Schulter, oberflächliche Verletzungen an Gesicht und Armen, ein Metallstück, das meine linke Niere knapp verfehlt hatte, und eineBewusstlosigkeit, der keine Kernspintomographie je auf die Spur kam, da in meinem Kopf weder ein Ödem noch eine Blutung zu sehen war.
Mein Gedächtnis hat alles bis wenige Sekunden nach dem Aufprall registriert. Ich habe alles aufbewahrt, den gesamten Sturz und die Bruchlandung, alles ist archiviert, Bild für Bild. Die Ärzte sagen, das sei unmöglich, ich hätte den Ablauf der Katastrophe im Nachhinein rekonstruiert, meine Visionen wären bloß post-traumatische Fiktionen. Dabei weiß ich genau, dass das nicht stimmt, ich habe mir das alles weder eingebildet noch ausgedacht, sondern mit eigenen Augen gesehen, wie wir zu fünft, eingeschlossen in dieser Blechbüchse, mit schwindelerregender Geschwindigkeit dem Schlachthof entgegenrasten – die Augen angstgeweitet wie dem Tode geweihte Säugetiere. Angesichts des Abgrunds, der uns verschlang, waren wir unfähig einander zu helfen, uns um die anderen zu kümmern. Das Entsetzen schob uns seine Faust in den Rachen und ließ uns kreidebleich werden. Auch kann ich alles über den Moment des Aufpralls erzählen, unendlich präzise, ich kann genau sagen, was mit unseren Körpern passierte, als die Schwerkraft ihr Werk vollendete. Aber ich werde alles bis an mein Lebensende für mich behalten, nichts erzählen, Schweigen bewahren. Selbst wenn mich die Erinnerung weiterhin jede Nacht wecken sollte. Denn an diesem Tag habe ich Dinge gesehen, die ein Mensch, die ein Vater niemals sehen sollte.
Bis zum 27. Januar lag ich in einem anscheinend friedlichen Koma. Von dieser Bewusstlosigkeit weiß ich nichts. Weder von guten noch schlechten Träumen, auch nicht von Gesprächen, die um mich herum stattgefunden hätten. Eswar eine lange Nacht, die dreiundzwanzig Tage währte, ein neuronaler Klärvorgang, ein langer Genesungsschlaf, den der Körper einforderte, um sich dem Fortleben stellen zu können.
Das Aufwachen gestaltete sich übrigens ziemlich merkwürdig. Denn ich fiel zwei weitere Male ins Koma. Das erste, dreiwöchige Koma wurde von einer kurzen Wachphase unterbrochen, auf die augenblicklich eine neue Bewusstlosigkeit von drei Tagen folgte.
Die neurologischen Ursachen für mein erstes langes Wegbleiben kann ich zwar nicht benennen, dafür kenne ich die Gründe und den Auslöser für das zweite Koma umso besser. Am Abend des 26. Januar nämlich führte der Zufall meine beiden Söhne nach Montreal. Sie wollten ihre Mutter besuchen und bei der Gelegenheit einen Blick auf die bandagierte Mumie werfen, die ihnen als ihr Vater präsentiert wurde. So machte sich der mir verbliebene Rest der Familie am frühen Nachmittag des 27. auf den Weg in die Avenue des Pins, wo das Royal Victoria Hospital lag. Dort angekommen, stellten sie sich am Fußende meines Bettes auf, wie es sich ihrer Ansicht nach im Beisein eines Sterbenden gehörte. Da schlug ich entgegen aller Erwartung die Augen auf, und mein Bewusstsein fuhr, wie von einem alten Akku angetrieben, langsam wieder hoch. Nach dem ersten Moment der Blendung konnte ich schließlich erkennen, wer da vor mir stand: die drei Kellers, die Zwillinge und ihre angebetete Matrix, quasi austauschbare Exemplare, die gesamte Dynastie. Ich sage das im vollen Ernst, und ich bin davon überzeugt, dass dieser albtraumhafte Anblick meiner Söhne samt ihrer Erzeugerin – gepaart mit der dunklen Vorahnung von den schlechten Nachrichten, die sie für mich bereithielten – mich letztlich zudem Schritt veranlasste, mich dazu ermunterte, für drei weitere Tage dorthin zurückzukehren, woher ich kam.
So gewann ich drei Tage und drei Nächte, in denen ich mir einreden konnte, meiner Tochter wäre es ebenfalls gelungen, dem Schicksal zu entkommen. Beim Aufwachen jedoch teilte mir ein Neurologe mit, dass Marie gestorben war. Er sagte es auf eine Art und Weise, die mir sonderbar und sanft zugleich erschien. Auf die Frage: »Wo ist meine Tochter?« erwiderte er einfach: »Ihre Tochter ist nicht mehr.«
Am Abend, bevor Hugo und Nicolas wieder in ihr Flugzeug nach Toulouse steigen mussten, besuchten sie mich im Krankenhaus, bekleidet mit einem lächerlichen North-Face-Anorak. Unser Gespräch verlief so, wie es unser Leben lang verlaufen war.
»Wir sind gekommen, um uns zu verabschieden. Wir müssen morgen wieder
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