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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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Zeichen gesucht, auch wenn die Erklärung gewiss viel banaler ist. Wahrscheinlich gibt es gleich neben der Wohnung, in der sich Anna nageln lässt, einen Brathähnchenstand, an dem sie von nun an regelmäßig Hühner kauft. Bereit zum Verzehr. Frisch auf den Tisch.
    Und ich lasse mir auftischen: Twice a week , wie der Mann aus Toronto sagen würde. Ohne Theater zu machen. Ohne Fragen. Bis auf eine. Eine sehr präzise Frage. Immer dieselbe.
    »Stammt es aus Freilandhaltung?«
    Und unermüdlich antwortet Anna:
    »Ich kaufe nur Freilandhühner.«
    Oft denke ich an meine Eltern, Bastiaan und Maria. Und soweit ich mich erinnern kann, so tief ich auch in meinem Gedächtnis grabe, kann ich mich nicht entsinnen, dass meine Mutter auch nur ein einziges Mal mit einem Brathähnchen von ihren Terminen zurückgekehrt wäre.
    So gleichgültig mir Anna Kellers sexuelle Phantasien sind – sie ist keine Sneijder und wird auch nie eine sein, erst recht nicht nach allem, was mir widerfahren ist –, finde ich es einfach inakzeptabel, welchen Druck sie ausübt, um mich wieder zur Arbeit zu schicken. Noch vor drei Monaten hat sie sich darauf eingestellt, um mich zu trauern, und heute möchtesie am liebsten, dass ich, frisch operiert, zusammengeflickt und aus dem Koma erwacht, meinen Posten sofort wieder antrete wie ein zäher und vorbildlicher Angestellter, der es nicht erwarten kann, wieder Weinkisten zu bestellen: Juliénas, Gigondas oder Morgon, damit die kontinuierliche Belieferung der Société des Alcools du Québec gesichert ist.
    Was diese Idiotin nicht weiß, ist, dass ich etwas ganz anderes im Sinn habe. Seit zwei Wochen meldet sich nämlich eine Versicherungsgesellschaft bei mir, die sowohl Woodcock, den Aufzughersteller, als auch Libralift, die Wartungs- und Reinigungsfirma, vertritt. Charles Wagner-Leblond, der Anwalt dieser beiden Unternehmen, ist schon zweimal bei mir vorbeigekommen, um sich nach meinen Absichten zu erkundigen.
    »Wir wissen genau, was Sie durchgemacht haben, und können uns sehr gut vorstellen, was für schreckliche Momente Sie erlebt haben. Vor allem jedoch möchte ich Ihnen im Namen meiner Kunden und auch persönlich mein tiefes Beileid bekunden.«
    Ich bin nicht so naiv, mich von dem geheuchelten Mitgefühl einer Versicherungsgesellschaft täuschen zu lassen. Doch muss ich gestehen, dass dieser Anwalt mit diesem Satz mehr Menschlichkeit zum Ausdruck brachte als meine ganze Familie zusammen in den Wochen nach dem Drama. So hölzern und förmlich sein Auftreten war, machte er bei diesem Gesprächsauftakt einen loyalen und aufrichtigen Eindruck, wenn sich solche Adjektive überhaupt auf den Bevollmächtigten einer Versicherung anwenden lassen.
    »Ich möchte Ihnen auch sagen, dass wir Sie in keiner Weise drängen oder auf Ihre Entscheidung Einfluss nehmen wollen, ganz gleich wohin Sie tendieren. Mein Besuch hat kein anderesZiel, als mit Ihnen Kontakt aufzunehmen und zu prüfen, ob wir zusammenarbeiten können, falls es in irgendeiner Weise denkbar sein sollte, dass Sie diese Absicht verfolgen.«
    Vermutlich gibt es keinen Ort mehr auf der Welt, an dem man sich so zurückhaltend und vorsichtig ausdrückt, abgesehen vielleicht von Eton. Aber genau das macht den besonderen Charme von Wagner-Leblond aus, er ähnelt einem Autofahrer, der immer nur mit angezogener Handbremse fährt. Da ich zu diesem Zeitpunkt die Ausdrucksweise meines Gesprächspartners noch nicht kannte, bat ich ihn, sich etwas klarer auszudrücken.
    »Was ich sagen will, ist, dass Sie sich zu einem bestimmten Zeitpunkt entscheiden müssen, ob Sie sich mit Woodcock und Libralift auf eine Einigung einlassen oder gegen die beiden Unternehmen prozessieren wollen.«
    »Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.«
    »Natürlich, das verstehe ich, das alles ist ja auch noch ganz frisch. Aber erlauben Sie mir eine Frage: Haben Sie einen Vertreter oder Berater, Monsieur Sneijder?«
    »Meinen Sie einen Anwalt? Nein, niemanden.«
    »Vielleicht sollten Sie sich besser einen zulegen. Denn angesichts der komplexen technischen Fragen, die mit Ihrem Fall zusammenhängen, würde es die Bearbeitung vereinfachen.«
    Wagner-Leblond ist der Typ Mann, den man sich als Mitglied eines oder mehrerer Clubs vorstellt. Und obwohl seine Muttersprache Französisch ist, spricht er, wie bereits erwähnt, ein äußerst gewähltes Englisch, das sein würdevolles Auftreten noch unterstreicht. Er ist sich in jedem Augenblick des Ernstes und der Gewichtigkeit seiner Aufgabe

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