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Der Fall Sneijder

Der Fall Sneijder

Titel: Der Fall Sneijder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Paul Dubois
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das wissen willst, schließlich bist du tagsüber nicht zu Hause.«
    »Aber ich sehe dich abends beim Nachhausekommen vor dem Fernseher hocken.«
    »Ich hocke nicht, wie du sagst, sondern sehe mir den Wetterbericht an.«
    »Und du findest es normal, Stunden mit diesem Unsinn zu verbringen.«
    »Ich verbringe keine Stunden vor dem Fernseher, ich sehe mir nur die Vorhersagen an.«
    »Hast du mal an die finanziellen Folgen deiner Entscheidung gedacht? An die Tatsache, dass ich für alles allein aufkommen muss? Ganz abgesehen davon, dass du den Posten bei der SAQ mir verdankst, weil ich ein gutes Wort für dich eingelegt habe. Ich denke, es wird Zeit, dass du ins Lebenzurückkehrst, zur Arbeit gehst, aufhörst, dich selbst zu bemitleiden, und endlich vergisst, was dir widerfahren ist. Du bist schließlich nicht der Einzige auf der Welt, dem ein Unglück zugestoßen ist.«
    »Ich werde nicht zur SAQ zurückkehren, und wenn die Zeit reif ist, werde ich auch wieder für meinen Lebensunterhalt sorgen. Bis dahin bitte ich dich nur: Geh aus, triff dich mit Leuten und lass mich in Ruhe.«
    Bestimmt hätte es Anna gefallen, wenn ich wieder in ein langes Koma gefallen wäre, in eine Art Schwebezustand, durch den sie nach einer gewissen Zeit den Status einer fröhlichen Witwe erlangt hätte. Endlich befreit von ihrem erfolglosen Ehemann und deprimierenden Lebensgefährten, hätte sie ein neues Leben anfangen können, das ihrem sozialen Statusgefüge, diesem Territorium, dessen Umrisse und Grenzen sie eifersüchtig verteidigte, mehr entspräche. Seit einigen Jahren hatte ich begriffen, dass Anna zu den Leuten gehörte, die einem lästigen Menschen oder Angehörigen mit einem unlösbaren, wiederkehrenden, über die Jahre eingekapselten Problem aufs Innigste den Tod wünschen konnten oder die Ansicht vertraten, eine plötzliche Krankheit oder ein kleiner Unfall zur rechten Zeit hätten den Vorteil, mit diesem Problem kurzen Prozess zu machen. Ohne auszuschließen, dass es natürlich eine Übergangsphase maßvoller Trauer gäbe.
    Wenn Anna mich im Krankenhaus besuchen kam, waren auf ihrem Gesicht die Spuren einer gewissen Verärgerung zu erkennen, eines Affekts, den ich bis dahin noch nie bei ihr gesehen hatte und auf die jüngsten Ereignisse zurückführte. Doch seit einigen Wochen drängt sich mir eine ganz andere Deutung auf. Dieser Gesichtsausdruck, den meine Frau nichtmehr verbergen kann, verrät ihr Bedauern, eine Gelegenheit verpasst zu haben, und ihre Enttäuschung, so fest an dieses Koma, an dieses schicksalhafte Nichts geglaubt zu haben, das ihr die Türen zu einem neuen Leben geöffnet hätte.
    Ich halte meine Beobachtung für völlig zutreffend. Und seltsamerweise nehme ich es Anna überhaupt nicht übel. Ich mache ihr keinen Vorwurf – weder, dass sie sich mein Ende erhofft, noch dass sie seit rund zehn Jahren einen Liebhaber hat.
    Ich weiß, dass Anna sich mit jemandem trifft und mir ebenso ungeschickte wie überflüssige Lügengeschichten auftischt, um die Lücken in ihrem Tagesablauf zu vertuschen. Als ich einmal in einem Stadtteil unterwegs war, in den es mich nur selten verschlägt, und zwar zu einem Zeitpunkt, da sie sich eigentlich woanders hätte aufhalten müssen, sah ich sie aus dem Auto ihres Liebhabers steigen, einem Suzuki Geländewagen, der in Ontario zugelassen war. Sie küsste den Mann mit derselben Zurückhaltung, die man an den Tag legt, wenn man sich von seinem ehrwürdigen alten Gatten verabschiedet.
    Angesichts der kurzen Zeitspanne, die mir für die Betrachtung dieser Szene vergönnt war, kann ich nur sagen, dass der Mann am Steuer einen ebenso beliebigen wie annehmbaren Eindruck auf mich machte.
    An jenem Abend fühlte sich Anna verpflichtet, mir, obwohl ich sie um nichts gebeten hatte, entgegen ihrer Gewohnheit ausführlich ihren Tagesablauf zu erzählen – wobei sie die Zeiträume nach Bedarf ausdehnte, um die Episode mit dem Liebhaber aus Ontario aus dem Rahmen zu drängen. Als Wiedergutmachung für diese kleinen Lügen, das fiel mir auf,hatte meine Frau zum ersten Mal, seitdem wir in Kanada lebten, ein Brathuhn zum Essen mitgebracht.
    Und so kommt es, dass wir seit zwei Jahren jeden Dienstag und jeden Freitag ein knusprig gebratenes Hähnchen verzehren. Offenbar fühlt sich meine Frau, seitdem sie der Fleischeslust frönt, dazu verpflichtet, mir ein Stück warmes Geflügel mitzubringen. Dieses Ritual machte mich eine ganze Weile stutzig. Ich habe darin nach allerlei Symbolen und versteckten

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