Der Fall Struensee
Natur: die riesigen Kronen der Buchen, die Heidelandschaft, das Meer. Struensee lieh Mathilde Bücher wie „Candide“ von Voltaire oder „Emile“ von Rousseau, und sie unterhielten sich lebhaft darüber, wenn sie bei ihren Ausritten Rast machten.
Mathilde liebte ihren zweijährigen Sohn Friedrich abgöttisch, mit der ganzen Kraft ihres unerfüllten Gefühlslebens hatte sie sich während ihrer trüben Ehejahre an das Kind geklammert. Der Kronprinz war zart und schwächlich, verzärtelt und eigensinnig. Ein Sorgenkind, immer kränkelnd, oft schreiend, überempfindlich. Durch Rousseau erfuhr sie nun, dass man ein Kind auch durch Fürsorge erdrücken und durch ein Übermaß an Nachsicht falsch erziehen konnte. Nach den Prinzipien Rousseaus und mithilfe Struensees wurde nun eine andere Erziehung des Kronprinzen ins Auge gefasst.
Als der Hof in das herbstliche Kopenhagen zurückkehrte, war dort die Stimmung angstvoll und düster. Die Kinderseuche, die Blattern waren ausgebrochen. Die Mütter hielten ihre Kleinen in den Häusern. Die Straßen und Plätze waren öde und leer ohne die Spiele und das Geschrei der Kinder.
Die Türen der Häuser öffneten sich hauptsächlich dann, wenn kleine Kindersärge hinausgetragen werden mussten. In den Kirchen wurden unablässig Bittgebete gesprochen. Reiche Familien, Kaufleute und Adlige, verließen fluchtartig die Stadt. Struensee drängte auf schnelle Maßnahmen. Er setzte bei Christian eine Stiftung durch, die es ihm ermöglichte, zusammen mit zwei Kollegen systematische Schutzimpfungen durchzuführen. Dennoch starben an der Seuche über tausend Kinder. Die Königin war voller Angst um ihren Sohn und Struensee riet dazu, den Kleinen zu impfen.
Der Kronrat, der darüber entscheiden musste, war nur schwer zu überzeugen, aber schließlich gab er nach. Die Impfung wurde Anfang Mai in der Abgeschiedenheit von Hirschholm vorgenommen und verlief ohne Komplikationen. Mathilde war so erleichtert und dankbar, dass sie Struensee, der am Bett ihres Kindes stand, die Hand küsste. Er zog sie so hastig weg, als habe er sich verbrannt. Doch ihre kaum überstandene Angst rührte ihn sehr, und er staunte, dass sie in dieser Stimmung so ganz anders war als sonst. Sie nötigte ihm eine wertvolle Brosche auf. „Bitte nehmen Sie sie, machen Sie sie zu Geld für ärztliche Behandlungen der Armen, für Schutzimpfungen oder was immer. Sie dürfen dieses unbedeutende Geschenk nicht zurückweisen.“
Verlegen gab Struensee nach und dankte ihr. Struensee wurde mit Beförderungen überschüttet. Mathilde setzte es durch, dass er zu ihrem Kabinettssekretär ernannt wurde, und der König berief ihn zum Konferenzrat. Die Flüge der politischen Ideen Struensees rissen die Königin mit. Er weihte sie in seine Hoffnungen ein, die dänischen Leibeigenen zu freien Bauern zu machen, den Adel in seinen alten Privilegien einzuschränken, die ganze Gesetzgebung umzubauen. Von oben herab, durch königlichen Kabinettsbefehl wollte er in Dänemark eine Revolution durchführen und die Tore zur neuen Zeit ohne Unruhen und Blutvergießen aufstoßen.
Die Bewunderung seiner Zuhörerin entging Struensee nicht, sie schmeichelte ihm. Er liebte es, in diese hellen blauen Augen zu schauen, die sich unter seinen Reden mit vertrauender Begeisterung füllten. Ihr silberblondes Haar, das in langen Wellen auf die Schultern und den Rücken herabfiel, gefiel ihm außerordentlich. Doch er glaubte sich nicht in diese Frau verliebt, obwohl ihm die Schönheit ihrer Jugend nicht entging. Mathilde träumte von der Zukunft wie Struensee, aber sie träumte anders als er. Nicht die Macht, nicht die Befreiung des Volkes lockte sie, sondern die Liebe.
Die Welt wurde ihr ein freudiges Mysterium. Mit pochendem Herzen ritt sie bei ihren Ausflügen neben Struensee am Strand entlang. Die engen Formen, die ihr Dasein gehabt hatte, waren gesprengt. Die Zeit, da sie müde und todunglücklich auf ihrem Bett gelegen hatte, war vorbei. Struensee fragte sich eines Abends, ob er sich nun doch in sie verliebt habe. Wenn er an sie dachte, an ihr kindliches Gesicht mit den vollen Lippen, der runden Stirn und den fragenden Augen, überfiel ihn ein süßes, wehes Gefühl. Er schüttelte den Kopf und beschloss, sie nach Möglichkeit zu meiden. Er redete sich ein, dass sein Gefühl für die junge Frau nur vorübergehend sei, verursacht durch ihre kindliche Schönheit, bedingt durch viele kleine Umstände.
Er als der Ältere musste vernünftig sein. Aber
Weitere Kostenlose Bücher