Der Fall Struensee
in Münters Augen gesagt haben sollte. Wichtig war nur, dass es recht wirkungsvoll klang. Zwei Tage später kam Münter erneut in Struensees Zelle. Nach einigem Vorgeplänkel kam der Pastor erneut auf sein Anliegen zu sprechen: „Sie stehen nun, seit unsrer ersten Unterredung der Ewigkeit zwei Tage näher. Die Zeit verrinnt unerbittlich. Und ich bin hier, um Ihre unsterbliche Seele zu retten.“
„Ich glaube nicht an die Ewigkeit und nicht an eine unsterbliche Seele“, beteuerte Struensee mit fester Stimme, „meines Wissens habe ich das schon vor zwei Tagen ganz klar zum Ausdruck gebracht.“
„Dann gibt es weder Lohn noch Strafe?“
„So wenig, wie es absolute Begriffe von Gut und Böse gibt.“
„Das heißt, es ist völlig beliebig, wie sich ein Mensch verhält?“
„Das nicht. Wir müssen miteinander aushandeln, welchen Regeln wir folgen wollen.“
„Aushandeln!“, rief Münter aufgebracht, „dann gelten die zehn Gebote also nicht mehr.“
„Alles muss einer kritischen Überprüfung standhalten, auch Aussagen der Bibel.“
Münter verschlug es die Sprache und Struensee fuhr fort: „Nehmen wir doch mal das fünfte Gebot. Im Namen von Gott und Kirche sind unzählige Menschen getötet worden, in Kriegen und auf Scheiterhaufen. Auch im Namen der Justiz, wie es bei mir der Fall sein wird. Ich würde es für sinnvoll halten, mit diesem Gebot endlich ernst zu machen.“
Münter nickte und stieß mit dem Zeigefinger durch die Luft: „Und was halten Sie, Herr Graf, vom sechsten Gebot?“
„Mit diesem Gebot werden und wurden die allergrößten Schuldgefühle erzeugt. Es gibt Vorstellungen, die einem in der Kindheit anerzogen und danach niemals mehr hinterfragt werden. Sie hinterlassen eine Prägung in der Seele wie ein Petschaft in heißem Wachs. Es ist dann schwer, solche sogenannten Werte mit dem Licht der Vernunft zu prüfen. Stattdessen werden Schuldgefühle, die von Morallehrern, Politik und Religion erfunden wurden, wie Peitschen von der Obrigkeit benutzt, um die Menschen daran zu hindern, glücklich zu werden. Ich hoffe, es wird eine Zeit kommen, in der solche Vorstellungen überwunden sind.“
„ Das ist ja höchst subversives Gedankengut, das Sie da preisgeben! Die meisten anderen Freidenker halten doch wenigstens an den sittlichen Geboten fest. Aber genau genommen überrascht mich das nicht. Denn es ist ja bekannt, dass Sie sich in dieser Hinsicht keine Zügel angelegt haben. Ganz abgesehen von Ihrer Affäre mit der Königin.“ Struensee lächelte vor sich hin, blieb jedoch eine Antwort schuldig.
Münter verabschiedete sich, kam aber nach zwei Tagen erneut. Hartnäckig, dachte Struensee, halb amüsiert, halb missmutig. Wie eine lästige Fliege, die sich nicht verscheuchen lässt.
„Sie glauben also nicht, dass Sie für Ihr Tun nach dem Tod zur Verantwortung gezogen werden“, begann Münter das Gespräch.
„Ich bin einige Mal tödlich krank gewesen, bin mit großer Verwegenheit geritten, habe mir im letzten Sommer bei einem Sturz vom Pferd den Arm gebrochen, aber es ist mir nie eingefallen, auch nur einen Schritt über das Leben hinauszudenken. So fürchte ich nach diesem Leben auch keine üblen Folgen oder Strafen. Ich werde schon hier für mögliche Vergehen genügend bestraft, indem ich im Kerker sitze und auf mein Todesurteil warte.“
„Bereuen Sie denn, was Sie getan haben?“
„Nein. Es tut mir nur leid, dass ich meine Freunde ohne es zu wollen mit ins Verderben gezogen habe.“ Struensee seufzte.
„Das heißt also, dass Sie glauben, sonst alles richtig gemacht zu haben?“ Der Gefangene räusperte sich und antwortete mit belegter Stimme: „Nein, ich halte mich nicht für unfehlbar. Gewiss habe ich Fehler begangen. Irren ist menschlich. Ich habe Situationen falsch eingeschätzt. Und ich war wohl auch zu ungeduldig. Aber ich tat alles in einer guten Absicht, ich wollte das Los der Armen und Kranken verbessern.“
„Da bin ich aber ganz anderer Ansicht!“, wetterte Münter. „Mit einem Leichtsinn ohnegleichen haben Sie sich ans Ruder des Staates gesetzt. Vielleicht hatten Sie durch Ihre Lektüre einige gute Grundsätze der Regierungskunst gesammelt: aber Sie wissen, jede Kunst, jedes noch so kleine und leichte Handwerk, erfordert gewisse Handgriffe, die man nur nach und nach durch Übung lernen kann, und diese Übung hatten Sie nicht. Mit welcher Übereilung haben Sie die Geschäfte verwaltet, ohne Kenntnis der Gesetze, der Gegebenheiten Dänemarks und der Sprache.
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