Der Fall von Katara
Genau an der Stelle, wo die Himmelswand um durchschnittlich einen Zehntel Millimeter pro Tag nach oben glitt, war eine kontinentale Bruchlinie, die verheerende Erdbeben auslösen konnte. Der Festlandsockel, auf dem Katara gelegen war, schob sich ganz langsam unter das Malakka-Gebirge, sodass die Yakkis die ganze Stadt Negidu jedes Jahr um circa zweiundsiebzig Zentimeter nach Westen versetzten, worüber die Threber sehr verärgert waren. Es war ein ewiger Kampf gegen die Naturgewalten.
Erek spürte plötzlich einen konstanten Bassrhythmus in der Magengegend, als sie auf dem verwachsenen Steg der Brücke entlangliefen. Zu diesen dumpfen Schlägen gesellten sich die bizarrsten Urwaldgeräusche. Dann erkannte Erek hoch oben in den Palmen die Urheber. Kopfnussaffen schlugen ihre Schädel gegen die hohlen Baumstämme. Mit diesem Verhalten wollten sie diejenigen beeindrucken, die in ihr Revier vordrangen. Daraufhin waren auf einmal alle Tiere des Waldes alarmiert. Hungerstreik-Zikaden, Gelbzungenspeisefrösche und Rotkopf-Hüstlinge trugen schließlich auch ihren musikalischen Teil dazu bei. Sie versuchten vergeblich, mit diesen Kakophonien die Fremden, die in ihr Revier eingedrungen waren, zu verscheuchen.
Erek und Zardosch gingen unbeirrt weiter, um am Ende der Brücke in einer sonderbaren Fuchsbaumhöhle zu verschwinden. Diese Szenerie wurde begleitet von den lärmenden Balzgesängen der Blattgoldfische. Sie schwammen gut versteckt in den großen Wasserglocken der Eisenhutbäume und warteten auf Extremophile, die üblicherweise in den feuchten Regenmassen, die vom Meer kamen, enthalten waren. Die Vorräte im Bio-Aquarium schwanden allmählich dahin.
Erek wollte seinen Augen nicht trauen, als er die Gaststätte betrat. Eine geheime Welt tat sich ihm auf, nachdem sie hinter der Fuchsbaumhöhle in einem grünen Saal aus getrimmten Büschen und Gewächsen standen. Hier wurde völlig auf Stein und Mörtel verzichtet. Die einzige feste Wand, an die sich die Gaststätte „Zum Riesenzwerg“ lehnte, war die Himmelswand. Obwohl der Boden immer weiter nach unten absackte, kletterten die schnellen Wurzeln der flinken Fuchsbäume hinterher, damit sie nicht im tiefen Erdreich versanken. Mit ihren feuchtigkeitsliebenden Blättern schmiegten sie sich regelrecht an die nasse Himmelswand an und bildeten ein schützendes Dach, sodass kein einziger Wassertropfen durch die dichte Decke dringen konnte. Durch ein ausgeklügeltes Fenstersystem wurde der Raum mit etwas Licht geflutet. Etliche menschenleere Tische und Stühle standen ungleichmäßig verteilt herum, während hinter einem langen Tresen aus Kopfnussholz ein einsamer Held postiert war, der mit einem großkarierten Spültuch friedfertig seine Balsamholz-Teller blank wischte. Hinter ihm war ein rot-weißes Tuch gespannt, das Bauer Simbel, mit verklärtem Blick Richtung Westen schauend, abbildete. Ansonsten waren keine Gäste anwesend, was auch nicht anders zu erwarten gewesen wäre, da bekanntlich ein Sonnensturm drohte. Zardosch ging zu dem Mann am Tresen. Erek folgte ihm in einem Sicherheitsabstand.
„Na, wie geht es dir?“, fragte Zardosch und deutete mit gespreizten Fingern eine Kugel an. Das war die übliche Begrüßungsformel unter Freunden in Negidu.
„Ziemlich stressig heute“, antwortete der Gastwirt übernächtigt, ohne seine Arbeit ruhen zu lassen.
„Das ist Erek. Erek, das ist mein Freund Rabulio Mojito, der beste Saftmixer der Welt“, sagte Zardosch. Erek trat an den Tresen heran und hob seine Hand. Rabulio legte den Teller weg, schwang den Lappen auf die Schulter und grüßte ihn.
„Ihr kommt aus Usiris?“, fragte Rabulio.
„Ja. Woher weißt du das?“, antwortete Erek.
„Der feine Wüstenstaub hängt noch an eurer Kleidung“, verriet er ihm.
Erek schüttelte die Kleidung und seine Haare aus. Rabulio wandte sich an Zardosch.
„Ich gehe davon aus, dass er sauber ist?“, fragte er ihn. Erek schaute an sich herab.
„So sauber wie dein Geschirr nach einem starken Regen“, entgegnete Zardosch. Nach diesem Satz war Rabulio wie verwandelt und drückte ein paar Knöpfe an seiner Musikanlage, woraufhin ein rockiger Beat den Raum erschallen ließ. Plötzlich waren auch Stimmen zu vernehmen. Erek drehte sich um und sah viele Menschen an denselben Tischen sitzen, die vorhin noch alle leer waren. Die Leute tranken, aßen und unterhielten sich, als wäre nichts gewesen. Jeder von Rabulios Gästen hatte seine Tarnschildfunktion deaktiviert und fühlte sich
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