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Der Fall von Thormain

Der Fall von Thormain

Titel: Der Fall von Thormain Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ernst Vlcek
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sich auf den Brunnenrand und wollte nach dem Sitzgestell in der Glocke fassen, um sich hinüberzuziehen, als Wamdon ihm zurief: »Die Kutte wird dir unter Wasser hinderlich sein. Willst du nicht lieber wieder deine Kleider anlegen? Sie sind trocken.«
    Mythor sprang wieder von der Brunneneinfassung. Royna kam bereits mit einem Bündel und legte es am Brunnenrand ab. Während Mythor die Kutte abstreifte und sie gegen sein eigenes Gewand vertauschte, kehrte Royna ihm den Rücken zu.
    »Du kannst wieder schauen«, sagte Mythor schmunzelnd, als er in die Felljacke schlüpfte.
    Royna drehte sich um; ihre Wangen hatte eine leichte Röte überzogen. Sie hielt Mythor etwas hin, das in einen Fetzen eingewickelt war.
    »Nimm, es soll dir den Weg leuchten«, sagte sie dazu.
    Mythor nahm den unförmigen Gegenstand entgegen und stellte fest, dass er sehr schwer für seine Größe war, die etwa einer Männerfaust entsprach. Als er den Stoffstreifen hob, sah er es darunter gelblich leuchten.
    »Der Mondstein leuchtet unter Wasser«, sagte Royna.
    »Du kannst damit auch an der tiefsten Stelle des Brunnens sehen. Pass auf dich auf, Mythor.«
    Sie drückte ihm einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, wandte sich ab und lief davon. Er legte die Fingerspitzen auf den Mund, wie um die Wärme ihrer Lippen festzuhalten, bis er sich bewusst wurde, dass er ihr kein Wort des Abschieds gesagt hatte.
    Er wollte sie zurückrufen, aber da sagte Wamdon: »Du wirst wiederkommen, Mythor. Ich bin sicher.«
    Mythor nickte und kletterte von der Brunneneinfassung zur Glocke hinüber. Er setzte sich auf dem Brett zurecht und legte den Stein heben sich.
    »Vielen Dank für die Hilfe, Wamdon!« rief er unter der Glocke hervor, und seine Stimme hallte dumpf.
    »Was wir tun, geschieht für alle Menschen der Lichtwelt«, hörte er Wamdon rufen. »Wir lassen dich jetzt hinunter, Mythor. Alles Gute!«
    Von Mythor ergriff eine seltsame Beklemmung Besitz, als sich die glockenförmige Tauchvorrichtung auf die dunkle Wasseroberfläche des Brunnens hinabsenkte, in der sich der Schein des leuchtenden Steines spiegelte. Das Wasser hatte nun nichts Bedrohliches für ihn, und die Beklemmung rührte auch nicht von dem, was er Schreckliches über den Brunnen gehört hatte. Er war voller Erwartung, aber die Enge der Glocke bedrückte ihn. Seine Sicherheit, sein Leben hing allein von dieser seltsamen Vorrichtung ab, die Wamdon ohne magische Hilfsmittel erbaut hatte.
    Als Mythors Füße den Wasserspiegel schon fast berührten, kam die Glocke für einen Augenblick zum Stillstand. Von oben drangen Geräusche zu ihm herunter, die wie Kampflärm klangen. Und dann war er sich ganz sicher. Oben wurde gekämpft. Das konnte nur bedeuten, dass die Piraten zurückgekommen waren, um nach ihm zu sehen, und dabei die Vermummten überrascht hatten. Und er saß hilflos in der Glocke!
    Auf einmal gab es einen Ruck, und die Glocke stürzte nach unten, gerade so, als habe jemand das Tau durchtrennt, an dem sie hing. Mythor holte unwillkürlich Luft, als die Glocke tiefer sank, denn er meinte, dass das Wasser auch im Inneren in gleicher Höhe mit dem Wasserspiegel steigen würde. Doch stellte er zu seiner Erleichterung fest, dass Wamdon wenigstens in diesem Punkt nicht geirrt hatte und kein Wasser in die Glocke drang.
    Dennoch wurde er immer verzweifelter, je tiefer die Glocke sank: Die Gewichte zogen sie tiefer und tiefer und würden sie, wenn er nichts dagegen unternahm, rasch zum Grund des Brunnens hinabzerren. Aber selbst wenn er einige Gewichte löste, bis die Glocke leicht genug war, um aufzusteigen, war er in ihr und im Brunnen gefangen.
    Denn das Tau, das die Glocke gehalten hatte, war durchtrennt worden. Diesmal war der Brunnen endgültig für ihn zur Falle geworden.
    Es war unter diesen Umständen eigentlich egal, wann er mit der Glocke aufstieg. Also konnte er die Reise in die Tiefe fortsetzen und den Brunnen erforschen.
    Den Gedanken, dass er sein Geheimnis fand und es dann vielleicht in den Tod mitnahm, spann er nicht weiter.
    *
    Die sieben Flöße waren durch Taue verbunden und trieben in einer Reihe auf dem spiegelglatten Meer. Am vergangenen Tag waren die Flöße in aller Frühe in einer Bucht zu Wasser gelassen worden, und die Strömung trug sie weit ins Meer der Spinnen hinaus. Als an diesem Tag der Morgen graute, war von der Küste nichts zu sehen.
    Jedes Floß trug rund fünfzig schwerbewaffnete Krieger, die sich um den Mittelpunkt scharten, in dem ein magisches Feuer

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