Der falsche Apostel
Superior starrte sie wütend an.
»Wer hat ihn denn nicht leiden können?«, wollte er wissen. »Ninnedo, nehme ich an?«
»Ich spreche auch von Bruder Nath.«
»Nath!« Pater Allán blieb vor Staunen der Mund offen stehen. »Also hat Ninnedo dir von dieser Angelegenheit erzählt?«
Fidelma antwortete nicht.
»Schwester Fidelma, du weißt so gut wie ich, dass wir trotz unserer Gelübde und trotz unseres Lebens im Dienst des Lebendigen
Gottes nicht plötzlich übermenschliche Kräfte entwickeln, dass wir nicht unfehlbar werden.«
»Was soll das heißen?«
»Dass ich natürlich von den Anschuldigungen weiß, die Nath und Ninnedo erheben. Ich kenne die beiden seit vielen Jahren, seit
sie zusammen mit Moenach als Zöglinge hierhergekommen sind. Sie sind zusammen aufgewachsen, aber so wie manchmal Männer eine
unergründliche Abneigung gegeneinander entwickeln, so geschieht das auch bei Jungen. Mir war immer klar, wie neidisch sie
auf Moenach waren und wie sehr sie ihn hassten.«
»Ja? Und was hieltest du für den Grund?«
»Wer weiß? Wenn ein Junge so begabt und engelrein ist wie Moenach, dann hat er viele Feinde.«
|309| »Und bist du dir sicher, dass die Anschuldigungen der beiden jeglicher Grundlage entbehrten?«
»Ich kenne Moenach seit seinem siebten Lebensjahr. Er war über jeden Vorwurf erhaben.«
»Obwohl du vorhin zugegeben hast, dass keiner von uns unfehlbar ist?« Fidelma konnte sich diese sarkastische Bemerkung nicht
verkneifen.
Doch Pater Allán ging ihr nicht auf den Leim.
»Moenach war ein ganz besonderer Mensch. Es hat mich sehr geschmerzt, mit anzusehen, wie eifersüchtig Nath auf ihn war.«
»Ich möchte mit Bruder Nath sprechen.«
Pater Allán machte eine verlegene Geste.
»Aber er …, er hat sich aus dem Staub gemacht. Hat Ninnedo das nicht erwähnt?«
Fidelma schaute ihn einen Augenblick lang unverwandt an.
»Nath ist verschwunden?«
»Ja. Die ganze letzte Woche hat ihn niemand gesehen.«
Fidelma atmete tief durch, um nicht wütend loszubrüllen.
»Du sagst also, dass Bruder Nath vor einer Woche verschwunden ist? Vor einer Woche wurde Bruder Moenach ermordet. Warum habe
ich nicht früher davon erfahren?«
Pater Allán wurde bleich.
»Aber Muirenn hat doch Moenach erschlagen. Warum solltest du dich da für einen widerborstigen jungen Mann interessieren, der
sich aus der Gemeinschaft fortgeschlichen hat?«
»Wieso habe ich nichts davon erfahren?«, beharrte Fidelma. »Hat man Nachforschungen angestellt, was mit Nath geschehen ist?«
Pater Allán zuckte hilflos die Achseln.
»Er hat sein Gelübde gebrochen und ist weggelaufen. Mehr nicht.«
|310| »Lass bitte Bruder Ninnedo unverzüglich herkommen.«
Pater Allán blinzelte, zögerte und machte sich dann auf den Weg.
Mit mürrischer Miene näherte sich Ninnedo Schwester Fidelma. Ihm folgte Pater Allán, der ihn ängstlich beobachtete.
»Ich will die ganze Wahrheit hören, Ninnedo«, sagte Fidelma. »Und zwar sofort.«
»Ich habe die Wahrheit gesprochen.«
»Und doch hast du mir nicht erzählt, dass dein Freund Nath seit dem Tag verschwunden ist, an dem Moenach ermordet wurde.«
Ninnedo erbleichte, machte aber weiterhin ein mürrisches Gesicht.
»Beschuldigst du jetzt ihn, Moenach umgebracht zu haben und dann fortgelaufen zu sein?«, murmelte er. »Alle sagen doch, dass
Muirenn Moenach ermordet hat.«
»Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden. Weißt du, wo Nath ist?«
Ninnedo starrte sie an. Er schlug als Erster die Augen nieder und schüttelte den Kopf.
»Sprich mit Ainder, der Tochter von Illad«, flüsterte er.
»Wer ist Ainder?«, wollte Fidelma wissen.
Pater Allán trat verlegen von einem Bein aufs andere.
»Ainder ist ein junges Mädchen aus dem Dorf, das für unsere Gemeinschaft die Wäsche macht. Sie lebt bei ihrem Vater Illand,
unserem Obergärtner.«
Fidelma wandte ihren Blick wieder zu Bruder Ninnedo.
»Warum sollte ich mit Ainder sprechen?«
»Es steht mir nicht zu, vorwegzunehmen, was sie vielleicht zu dir sagt«, erwiderte der junge Mann beherzt, in einem schwachen
Versuch, Fidelmas Stil nachzuahmen.
|311| Fidelma blickte in Ninnedos mürrisches Gesicht und seufzte.
»Und wo finde ich Ainder?«
»Die Hütte von Illand steht am Fuße des Berges«, mischte sich der Vater Superior ein. »Dort findest du sie, Schwester Fidelma.«
Sie beschloss, Bruder Aedo zu bitten, sie zu begleiten und ihr unterwegs die Stelle zu zeigen, wo Moenach ermordet wurde.
Sie wollte
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