Der falsche Apostel
»Ich weiß, dass du es warst. Es würde uns allen viel Zeit sparen, wenn wir auf falsche Unschuldsbeteuerungen verzichten könnten.
Ich habe Verdacht geschöpft, als ich erfuhr, dass Bruder Aedo, nachdem er hier mit der Todesnachricht eingetroffen war, so
verstört war, dass er dich nicht zu der Lichtung führen konnte. Trotzdem hast du ohne Hilfe sofort den Weg zu dem Ort gefunden,
wo Moenachs Leiche lag, obwohl es im Wald viele ähnliche Lichtungen gibt. Selbst wenn Aedo dir die beste Wegbeschreibung der
Welt gegeben hätte, hättest du zumindest ein bisschen danach suchen müssen.«
Die unterschiedlichsten Empfindungen huschten über das Gesicht des Vater Superior. Als er merkte, dass Schwester Fidelma sich
nicht erweichen lassen würde, setzte er sich hin und breitete hilflos die Hände aus.
»Ich habe Moenach geliebt!«
»Hass ist oft die Kehrseite der Liebe«, bemerkte Fidelma.
Der Vater Superior ließ den Kopf hängen.
»Ich habe Moenach von Kindesbeinen an erzogen. Ich war |323| vor dem Gesetz sein Ziehvater. Er hatte alles, was sich ein junger Mann nur wünschen konnte: gutes Aussehen, eine wunderbare
Begabung und eine Art, mit der er jeden seinem Willen gefügig machen konnte, mit der er alle so täuschen konnte, dass sie
an seine Güte und Frömmigkeit glaubten …«
»Nicht alle«, warf Fidelma ein.
»Ich weiß, ich weiß.« Pater Allán seufzte. »Ich hätte schon vor langer Zeit auf die anderen Mönche hören sollen. Ich hätte
auf sie hören sollen. Aber ich hatte meine Vorurteile und verschloss meine Ohren vor der Wahrheit.«
»Was hat deine Meinung geändert?«
»Lange versuchte ich, mir selbst über Moenach etwas vorzumachen. Dann kam Nath mit der schrecklichen Neuigkeit darüber, was
Moenach Ainder angetan hatte. Ich konnte das Böse, das zu einer solchen Tat geführt hatte, nicht fortbestehen lassen. Wenn
er in diesem Alter zu so etwas fähig war, was würde er in Zukunft noch alles an Schlechtem tun?«
»Was geschah dann?«
»Ich schickte Nath fort, gab vor, ihm nicht zu glauben. Ich wusste, dass Moenach ins Dorf gegangen war. Also hastete ich sofort
hinter ihm her den Pfad durch den Wald entlang und wartete auf der Lichtung auf ihn. Der Rest war leicht. Er hegte keinerlei
Verdacht. Ich lenkte seine Aufmerksamkeit auf etwas, das auf der Erde lag, und während er sich hinunterbeugte, um es näher
zu betrachten, hob ich einen Stein auf und schlug ihn – immer und immer wieder, bis er …«
»Dann kam Muirenn zufällig hinzu …?«
»Ich hörte, wie sich auf dem Pfad jemand näherte. Ich lief fort, so schnell ich konnte.«
»Und die arme Muirenn sah nur irgendeinen Mönch, der davonrannte. Und du ließest es zu, dass man sie für die Mörderin hielt.«
|324| »Das wollte ich nicht. Ich habe seither Höllenqualen gelitten.«
»Und doch hast du geschwiegen, als Bruder Aedo behauptete, sie sei die Mörderin. Und du hast noch mehr Schuld auf dich geladen,
indem du sie eingesperrt und um einen Brehon gebeten hast, der über sie zu Gericht sitzen sollte.«
»Ich bin auch nur ein Mensch«, rief Pater Allán aus. »Ich bin nicht erhaben über die Sünde, falls denn der Drang nach Selbsterhaltung
überhaupt eine Sünde ist.«
Fidelma spitzte nachdenklich die Lippen und schaute ihn an. »Dein Versuch, den Verdacht auf Unschuldige zu lenken, und dann
mit anzusehen, wie diese Unschuldigen litten, das ist eine Sünde.«
»Aber ich habe nichts Böses getan. Ich habe die Welt von dem Bösen befreit, das ich einmal in der irrtümlichen Ansicht genährt
hatte, es sei das Gute.« Pater Allán hatte die Fassung wiedergewonnen. Seine Züge zeigten Selbstgerechtigkeit, ja geradezu
Stolz. »Ich war überzeugt, Muirenn würde ihre Unschuld schon beweisen können. Wenn sie sich als unschuldig erwies, würde der
Verdacht nicht unbedingt auf mich fallen. Jemand hatte Nath den unklugen Rat gegeben, sich zu verstecken. Ihm würde man die
Tat anlasten. Jeder wusste, wie sehr er Moenach hasste.«
Fidelma hatte plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas an dieser Lösung des Falls nicht recht zusammenpasste. Ein Puzzelteil
war noch nicht am richtigen Platz. Sie war davon überzeugt, dass Pater Allán Moenach erschlagen hatte. Weshalb hatte er, der
bisher weder Bruder Nath geschweige denn jemand anderem abgenommen hatte, was sie über Moenach erzählten, plötzlich Nath geglaubt,
als er wegen der Vergewaltigung zu ihm kam, und seinen Schützling unmittelbar danach
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