Der falsche Apostel
aus Holz, mit dem man ihn offensichtlich erschossen oder erstochen hatte. Er sah wie der Schaft eines Pfeils
aus, aber ohne die Schwungfedern am Ende. Der Mann lag mit dem Gesicht nach unten mit ausgestreckten Armen, als |415| hätte er versucht, die Tür von innen zu öffnen. Die Fingernägel waren abgebrochen, und an den Fingern, mit denen er in seiner
Verzweiflung an der Tür herumgekratzt hatte, klebte Blut. Und erst sein Gesicht! Die Augen angstgeweitet, als wäre ihm eine
finstere Macht erschienen.
Tressach zitterte heftig. »Gott habe Erbarmen mit uns!«
Grabh rieb sich verstört das Kinn.
»Die Grabstätte war nach allen Regeln der Kunst verriegelt«, murmelte er. »Ihr alle habt die Siegel an der Tür gesehen. Versiegelt
seit fünfzehnhundert Jahren.«
»Und doch steckte der Mann hier drinnen und versuchte, ins Freie zu gelangen«, stellte Fidelma sachlich fest. »Offensicht lich kämpfte er mit dem Tod, als Irél veranlassen wollte, die Gruft zu öffnen. Was Tressach und Irél gehört haben, waren seine
Todesschreie.«
Irél sah sie an, und als sie sich beherzt einen Schritt vorwagte, warnte er: »Das ist schwerlich der richtige Anblick für
eine fromme Schwester.«
»Ich bin eine
dálaigh
«, erinnerte sie ihn. »Ich übernehme die Untersuchung des Falls.«
Fragend schaute Irél zum Abt, der aber nickte leicht. Daraufhin gab er den Weg frei und ließ Fidelma die Grabstätte betreten.
Sie verlangte nach Laternen, die ihr den Innenraum erleuchten sollten.
Eine gewisse Neugierde trieb sie voran. Sie kannte all die Geschichten über Tigernmas, den unrühmlichen König, der seine Druiden
hatte töten lassen und sich der Verehrung eines mächtigen Idols verschrieben hatte. Generationen von Kindern hatte man mit
Schauermärchen verängstigt, die Seele des bösen Königs würde aus der Anderswelt aufsteigen und sie mitnehmen, wenn sie nicht
den Eltern gehorchten. Und nun stand sie an der Tür zu seinem Grab, die unberührt geblieben war, seit man |416| seinen Leichnam vor langen Zeiten hier bestattet hatte. Einladend war der Ort nicht. Die Luft war muffig, feucht, es roch
nach verrotteter Erde und verwesten Pflanzen.
Das Erste, was ihr auffiel, war, dass es sich bei dem Leichnam um einen Mann mittleren Alters handelte, rundlich von der Statur
her, mit weißem Haar. Sie untersuchte die aufgeschürften und blutigen Hände und stellte fest, dass Finger und Handflächen
eher weich und geschmeidig waren und nicht von handwerklicher Arbeit zeugten. Auch ein näheres Betrachten der Kleidung ergab,
dass sie, abgesehen vom Staub und Schmutz, die von der Grabstätte herrührten, und abgesehen von den Blutflecken um seine Wunde,
gepflegt war, wie es sich für jemand höheren Ranges geziemte. Schmuck trug der Mann jedoch nicht, auch keinerlei Zeichen seines
Amtes, und die Lederbörse, die er am Gürtel hatte, war bis auf ein paar Münzen leer.
Erst nach all diesen Überprüfungen wendete sie ihre Aufmerksamkeit dem Gesicht zu. Sie versuchte, sich die schreckverzerrte
Grimasse wegzudenken. Doch schon im nächsten Moment zog sie die Stirn in Falten, bat darum, man möge eine Laterne näher halten,
und überlegte krampfhaft, wo sie das Gesicht schon mal gesehen hatte. Von irgendwoher kannte sie es.
»Abt Colmán, schau doch mal her«, rief sie. »Ich habe das Gefühl, ich kenne den Mann.«
Nur zögernd kam der Abt ihrer Aufforderung nach und beugte sich neben ihr nieder.
»Gott verdamm mich«, stieß er entsetzt aus und merkte nicht, was ihm da herausgerutscht war. »Es ist Fiacc, der Oberste Brehon
von Ardgal.«
Fidelma stimmte ihm mit bitterem Nicken zu. Sie hatte sich also nicht geirrt. Der Oberste Richter des Clans von Ardgal war
einer der landesweit anerkannten Brehons.
|417| »Er wollte gewiss an der Ratsversammlung teilnehmen«, brachte Colmán erschüttert hervor.
Fidelma erhob sich und klopfte den Staub von ihrem Habit. »Weit wichtiger ist, dass wir herausfinden, was er ausgerechnet
hier suchte«, meinte sie. »Wie gelangt ein anerkannter Richter in eine Grabstätte, die über Generationen hinweg nie geöffnet
wurde, und wird dort erstochen?«
»Hexerei!« Die Antwort kam mit tonloser Stimme von Tressach.
Irél strafte seinen Untergebenen mit einem sarkastischen Blick. »Lehrt uns nicht Patrick, dass es so etwas wie Hexerei nicht
gibt?«, tadelte er und meinte dann zu Fidelma: »Die Sache muss sich doch irgendwie erklären lassen, Schwester.«
Sie
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